Ich hatte keine Ahnung, dass Indiens Filmindustrie dieses Jahr ihren Hundertsten feiert. So alt und immer noch so unreif? Ist Bollywood nicht geradezu pubertär in der Exaltiertheit seiner Gefühle? Ist der Starkult nicht beinahe kindlich in seiner Heldenverehrung? Tempel, die Schauspielerinnen geweiht sind! Und wie reimt sich die klischeehafte Gegenüberstellung archetypischer Figuren – der Held und der Schurke, die Mutter und das Flittchen, der irregeleitete und der treue Sohn – mit der Realität einer komplexen und konfliktreichen Gesellschaft, mit ihren unendlichen Schattierungen ökonomischer und sozialer Befindlichkeiten?
In der Volkskultur verwurzelt
Bereits der erste Spielfilm, der am 3. Mai 1913 in Bombay über die Leinwand flimmerte, schien alle Bollywood-Klischees zu enthalten: der naive König, der strenge Guru, Liebesverrat, Badenixen, von Männern gespielt, mit nassen enganliegenden Dessous. War Dadasaheb Phalke, der Regisseur von «Raja Harishchandra», auch der Urvater des Bollywood-Tamasha? So hiess dieses Narrentheater, in dem der Unterhaltung jede Logik und Glaubwürdigkeit geopfert werden.
Doch Phalkes Film hatte damals gewichtige Konkurrenz. Er musste sich gegen das populäre Marathi-Volkstheater durchsetzen, namentlich in seiner Form als Singspiel. Auch dort brachen die Darsteller bei jeder Gefühlsregung in ein Lied aus. Phalke liess also nur eine alte Theatertradition weiterleben, und ihre bis heute anhaltende Popularität zeigt, wie tief die Wurzeln reichen.
Phalke verstand aber auch die revolutionäre Andersheit des neuen Mediums: bewegte Bilder! Sein erster von über hundert Streifen setzt ein mit einer Schaukel, auf der König Harishchandra hin- und herschwingt. Es ist mehr als ein optischer Gag. Die 20-minütige Sequenz endet mit derselben Bewegung, nur dass diesmal der Guru auf der Schaukel sitzt. Und in dieser Wiederholung liegt die sozialkritische Spitze verborgen: Auf dem Schaukelstuhl thront nun der Guru. Der König ist, hinter seinem maskulinen Gehabe, eine führungsschwache Figur, die von einem scheinheiligen Religionslehrer um das Königreich geprellt wird.
Kollektive Ängste und Konflikte zeigen
Es ist ein dramaturgischer Kniff, der den Bollywoodfilm bis heute prägt, nämlich Klischees einzusetzen, um damit effektvoll soziale und politische Anliegen anzumelden. Gesichtsausdruck, Kleidung, Accessoires mögen lachhaft überzeichnet sein, die Liebeslieder von Eskapismus triefen. Das hindert die Story nicht daran, auch die kollektiven Ängste und Konflikte zur Sprache zu bringen, und dies bereits in der Stummfimzeit: Landflucht, Gier und Armut, soziale Stigmatisierung, die Unterdrückung der Frau, religiöse Konflikte.
Bollywood ist kein Arthouse Cinema, aber das heisst nicht, dass das Publikum nur pralle Busen und Sirup-Duette erwartet. Bei unserer europäischen Vorliebe für das Autorenkino erreicht vielleicht nur Satyajit Ray den Rang eines glaubhaften Filmemachers. Das heisst aber nicht, dass Bollywood nur Ramsch produziert hat. Und zwischen den vielen Filmen, bei denen man vergebens nach dem Namen des Regisseurs Ausschau hält – der Vorspann stellt Stars und Produzenten in den Vordergrund – tauchen bereits in den Fünfziger Jahren Filmemacher auf, die Autorenkino machten. Es sind Namen, die bei uns kaum bekannt sind: Guru Dutt, Ritwik Ghatak, Hrishikesh Mukherjee, Bimal Roy.
Filme mit persönlicher Handschrift
Die Entwicklung eines Parallel Cinema setzte um 1931 ein, nach Ende des Stummfilms, wobei anzumerken ist, dass von Indiens über eintausend Stummfilmen nur gerade achtzehn überlebt haben sollen. Die neuen Sprechfilme hiessen Talkies, und es war ein Studio namens «Bombay Talkies», in dem neben Hollywood auch der europäische Neorealismus wahrgenommen wurde. Dennoch muss man anerkennen, dass dieses Parallelkino im Wortspiel eines Kritikers «nicht popular cinema, sondern unpopular cinema war». In den ersten drei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit Indiens gaben die Produzenten und Schauspieler dem Film einen Namen, nicht die Regisseure.
Das ist im Grunde bis heute der dominierende Trend, denn Megastars wie Amitabh Bachchan und die Drei Khans – Amir, Salman und Shahrukh – sind immer noch die wichtigste Affiche eines Films. Aber dank der technischen Entwicklung der letzten Jahre hat sich die Abhängigkeit von teuren Studioeinrichtungen, und damit der Dominanz von Produzenten, gelockert. Plötzlich werden relativ billige Filme gedreht, nicht immer mit einem Star als Zugpferd, und sie werden zu Publikumserfolgen. Sie enthalten immer noch Gesang und Tanz und Klamauk, aber sie tragen eine persönliche Handschrift, und sie können glaubwürdig Geschichten erzählen.
Vor zwei Wochen hatte in Bombay der einzige Spielfilm Premiere, der «Bollywood@100» seine Reverenz erweist. Er heisst sinnigerweise «Bombay Talkies». Der Plural bezieht sich nicht nur auf das berühmte Studio, er verweist auch darauf, dass der Film aus vier halbstündigen Beiträgen besteht, für das epische Bollywood-Kino eine fast unanständige Kürze. Noch auffallender war die Werbung. Auf den üblichen ganzseitigen Inseraten und Riesenplakaten stachen nicht die Namen von Stars und Produzenten ins Auge, sondern jene der jungen Regisseure – Karan Johar, Dibakar Banerjee, Zoya Akhtar und Anurag Kashyap.
Alle Vier geben eine Liebeserklärung an das indische Kino ab. Im Film von Johar bricht der von einem Bettlermädchen gesungene Filmsong die verkrustete Beziehung eines Ehepaars auf; Dibakar Banerjee zeigt, in Szenen, die an Fellini erinnern, wie eine zufällige Komparsenrolle einen unfähigen Geschäftsmann und Vater neu aufleben lässt; Zoya Akhtar gibt einem kleinen Jungen den Mut, sich die Schauspielerin Katrina Kaif als Vorbild zu nehmen – und sich damit dem Leistungszwang der Eltern zu verweigern. Und Anurag Kashyap macht den quasi-religiösen Starkult um Amitabh Bachchan zum Thema, der darin besteht, dass rund um die Uhr Dutzende von Leuten andächtig vor dem Haus des Stars ausharren, um einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen.
Bombay: Traumbild und Traumfabrik
Die vier Filme sind auch ein Hohelied auf Bombay, diese verrückte, magnetisch anziehende und brutal abweisende Stadt, in der Gegensätze aufeinanderstossen und sich aneinander schmiegen. Sie sind eine Reverenz an die Stadt, die (wie kaum eine andere Welt-Metropole) ein Jahrhundert lang kollektives Traumbild und zentraler Produktionsstandort war.
Die beiden Liebesbekenntnisse schliessen auch die Themen und Traumata ein, die Indien seit je umtreiben – das Nebeneinander von Arm und Reich, von Stadt und Dorf, von Landflucht und Slumexistenz; auch jenes von Religionsgemeinschaften, denn nirgendwo sonst haben Hindus und Muslime mit einer derartigen Selbstverständlichkeit zusammengespannt wie in Bollywood.
Die Beiträge demonstrieren die Fähigkeit des indischen Kinos, soziale Trends zu artiklieren. Johar zeigt ein Dreiecksverhältnis, in dem die offene Homosexualität eines jungen Manns das Ehepaar zwingt, seine Beziehung neu zu überdenken. Auch bei Akhtar geht es um sexuelle Identität: Der achtjährige Junge verweigert sich dem elterlichen Rollenzwang und bekennt sich zu seinem mädchenhaften Naturell. Es sind Themen des Erwachsenwerdens in einem jungen Land. Dass Bollywood sie aufgreift, beweist, dass es längst erwachsen, und noch lange nicht alt ist.