Lara Jenkins ist die Mutter des vielversprechenden Pianisten Viktor. Dass sie selbst eine verhinderte Pianistin ist, erfährt man im Lauf der Story, die einen einzigen Tag erzählt. Der Film beginnt mit Laras Aufwachen in einer kleinen Berliner Hochhauswohnung. Fast beiläufig zeigt er Spuren eines aus den Fugen geratenen Lebens. Auf einem Tisch liegen zerknüllte Papiere. Lara schläft in Kleidern, und als sie aufwacht, sieht man sofort, dass sie mit diesem Tag nichts zu tun haben will. Sie steht auf, öffnet das Fenster, geht aus dem Bild, und als sie mit einem Stuhl wiederkommt, fürchtet man gleich, dass sie sich in den Tod stürzen wird.
Sie steht schon auf dem Stuhl, da läutet es an der Tür. Warum lässt sie sich dadurch vom Sprung abhalten? Der Film wird es uns nach und nach zeigen – nicht erklären, nicht analysieren, sondern tatsächlich zeigen, erzählen.
Die Hürde des zweiten Films
Jan-Ole Gerster, der vor sieben Jahren mit seinem Erstling «Oh Boy» Beachtung fand und Preise einheimste, hat sich bis zu seinem zweiten Film sehr viel Zeit gelassen. Nach eigener Auskunft hat er in der Zwischenzeit mit Selbstzweifeln gekämpft. Was ja durchaus zu einer künstlerischen Reifung beitragen kann. Jedenfalls zeugt «Lara» von einer souveränen Disziplin beim Einsatz filmischer Mittel. Die ruhige Kamera (Frank Griebe), sorgfältig komponierte Bilder, der langsame stetige Erzählfluss (Schnitt: Isabel Meier), das sich aus feinen Andeutungen und fiesen Schocks allmählich zusammenfügende Lebensdrama der Protagonistin (Buch: Blaž Kutin) und nicht zuletzt die tragende Rolle der Filmmusik – alle diese filmischen Ingredienzen halten mit Effekten zurück und tun stets gerade eben so viel, wie es zur Fortentwicklung der Filmerzählung braucht.
Der Polizist, der Lara unwissentlich vom Sprung in den Tod abgehalten hat, blickt kurz darauf überrascht von ihrem Personalausweis auf und gratuliert ihr zum sechzigsten Geburtstag. Doch es gibt etwas noch Wichtigeres an diesem Tag: Viktor hat seinen grossen Auftritt als Pianist und Komponist. Lara ist zum Konzert nicht eingeladen. Von Viktor, der bei seiner Grossmutter lebt, hat sie seit Monaten nichts gehört.
Eine Kette verstörender Handlungen
Lara wird das Konzert dann doch besuchen. Bis es soweit ist, tut sie seltsame und verstörende Dinge. Vom Ende des Films her wird man sie vielleicht nicht gerade verstehen, aber doch in einen Zusammenhang bringen können. Sie hebt bei der Bank ihr ganzes Geld ab, kauft ein – gemessen an ihrer dumpfen Leere – viel zu lebenslustiges und attraktives Kleid (sie wird es bald danach in einer Toilette wegwerfen), besucht einstige Arbeitskolleginnen bei einer städtischen Verwaltungsstelle (was zu Peinlichkeiten führt; sie war dort unbeliebt und hat den Job gehasst).
Richtig schlimm wird es, als sie im Konservatorium über einen 13-jährigen Klavierschüler herfällt und ihm, wahrscheinlich zu Recht, jedes Talent abspricht. Noch schlimmer ist ihr Verhalten bei der Begegnung mit der Freundin oder vielleicht Ex-Freundin Viktors, der sie heimlich den Geigenbogen zerbricht. Der Kulminationspunkt aber ist das Treffen mit Viktor. Mit abgefeimter Berechnung träufelt sie das Gift des Zweifels in Viktors Glauben an die eigene künstlerische Zukunft.
Wo das Böse herkommt
Corinna Harfouch lässt die Frage, weshalb diese Frau so böse sei, an ihrer maskenhaften Miene und ihrer seelischen Erstarrung abprallen. Einen Antrieb zu ihrem Verhalten lässt sie nicht erkennen. Weder bereitet ihr der Schaden der anderen irgendeine Genugtuung noch verschafft er ihr Macht oder sonstige Vorteile. Sie agiert vielmehr wie in Trance.
Der Vergleich mit einer anderen bösen Pianistin der Filmgeschichte drängt sich auf. Im Jahr 2001 hat Michael Hanekes «La pianiste» mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle Furore gemacht. Die Huppert ist da eine verhärmte Klavierlehrerin, die, von ihrer Mutter buchstäblich am Leben gehindert und unter rigider Kontrolle gehalten, ihr Elend in schockierender Weise aggressiv auslebt – gegen andere und sich selbst.
Hanekes Werk ist von radikalem Nihilismus. Die Gründe für das verstörende Verhalten der Protagonistin sind von Anfang an klar, die destruktive Konstellation erweist sich als unverrückbar. Hanekes Klavierspielerin entlastet sich durch ihre Bosheit, allerdings ohne ihre Lage dadurch verändern zu können. Die Figuren sind gefangen in einem Mechanismus, der ihnen keine Spielräume für ein eigenes Wollen lässt.
Abgewürgtes Leben
Jan-Ole Gersters Erzählung ist kein derart fatalistisches Konstrukt. Die rätselhafte Bosheit seiner Protagonistin wird allmählich lesbar als Anzeichen eines abgewürgten Lebens. Gegen Ende des Films kommt die zuvor vergeblich gesuchte Begegnung mit dem alten Professor zustande. Lara hat einst bei ihm Klavier studiert. Sie galt als grosses Talent, hegte hochfliegende Pläne, doch der Professor hat sie immer von neuem gedemütigt. Er meint im Rückblick, er habe sie herausfordern, ihren Ehrgeiz wecken wollen. Das Gegenteil trat ein: Sie hat ihre Träume sausen lassen und die unterdrückte Ambition umso unerbittlicher in ihren Sohn gesteckt.
Ihr Mann, von dem sie längst geschieden ist, hat sie stets für ihre Härte gegenüber dem Sohn kritisiert. Doch Viktor ist der Kontrolle seiner Mutter mit der Unterstützung des Vaters und der Grossmutter entronnen. Was zu einem ehernen Käfig wie bei Haneke hätte werden können, ist aufgebrochen. Viktor schafft es denn auch, seine Verstörung nach der mütterlichen Kritik an seiner Komposition wegzustecken und das eigene Werk uraufzuführen.
Am Ende gibt sich Lara einer Phantasie hin, in der sie selbst wieder Klavier spielt. Die Szene ist irreal aufgeladen, so dass die Lesart offenbleibt. Jan-Ole Gerster vermeidet mit diesem träumerischen Finale ein plattes Happy End, lässt aber die Möglichkeit offen, dass seine Protagonistin sich aus ihrer Erstarrung lösen konnte. Mit dem seine Angst vor dem Scheitern überwindenden Viktor hat er sich ausserdem vielleicht ein Modell geschaffen, um den eigenen Schritt zum mit grossen Erwartungen befrachteten zweiten Film endlich zu wagen.
«Lara» läuft gegenwärtig in den Schweizer Kinos.