«Mahsas Tod vereint ein gespaltenes Volk in Trauer», lautete am 22.9. der Titel des Beitrags der Iranerin Parvan Irani (Pseudonym) im Journal21. Ja, so sieht es aus: Proteste in den Strassen zahlreicher Städte des Landes von Frauen, auch Männern, Regime-Oppositionellen unterschiedlicher Couleurs, an denen sich – geschätzt – zehntausende, vielleicht sogar mehr Menschen beteiligen.
Fotos, die durch die sozialen Medien den Weg in die ganze Welt finden, zeigen Frauen, die, auf dem Dach eines Autos stehend, ihr Kopftuch verbrennen, zeigen auch so genannte Sittenpolizisten (Angehörige von «gasht-e-ershad»), die Frauen mit dem nur noch halbwegs die Haare bedeckenden Kopftuch ermahnen, und anderseits in den Tschador gehüllte Frauen, die jungen Iranerinnen klar machen wollen, dass das Kopftuch immer gesittet getragen werden müsse und dass alles andere Sünde sei.
Alter Konflikt
Was die so verbreiteten Fotos nicht zeigen, ist das, was auf die Ermahnungen und Diskussionen bisweilen folgt – die Gewalt, mit denen «Rebellinnen» wie die 22-jährige Mahsa Amini nach der Festnahme «zur Räson» gebracht wurden. Aber eine Ausnahme gibt es nun eben doch, das über soziale Netzwerke verbreitete Foto der jungen Frau im Krankenhaus, kurz vor deren Tod.
Und nun wird, innerhalb und ausserhalb der von verschiedenen Richtungen des Islam geprägten Welt, die Frage gestellt: Kann dieses Bild, kann der Tod dieser Frau eine ähnliche Wirkung haben wie 2011 der Verzweiflungs-Selbstmord des Tunesiers Bouazizi in Tunesien, der (dank der blitzschnellen Verbreitung durch die sozialen Medien) wesentlich zu den Revolten des so genannten Arabischen Frühlings geführt hat?
Der Konflikt um das Kopftuch ist so alt wie die Islamische Republik. Er erzeugt bisweilen fast schon populär-künstlerische Darstellungen. Etwa jene, die ich in der Stadt Kashan entdeckte, und die, sehr typisch, die Schuld für die Rebellion gegen den Hijab der Verführung durch fremde Mächte zuweist. «Meine Schwester, gibst du deinen Hijab nicht dem Feind?» Wird rhetorisch in der Überschrift gefragt. Die USA, «der grosse Teufel», stachelt die junge Frau, die das Kopftuch nicht mehr akzeptieren will, offenbar an; Grossbritannien gibt Geld und der israelische Mossad sorgt dafür, dass die Protestaktion in die weite Welt hinausgetragen wird. Besagt das Bild, das in Variationen in Iran immer wieder zu sehen ist.
Formeln über Formeln
Die innere Verfasstheit Irans, der Islamischen Republik, ist, das wage ich aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung zu sagen, labil, aber nicht wirklich kritisch. Das Regime hat es immer verstanden, wird es wohl auch weiterhin verstehen, in schwierigen Situationen Flexibilität zu zeigen, dann aber, wenn es nach Einschätzung seiner Führung «brenzlig» wird, mit tödlicher Härte zuzuschlagen.
Nur: Wo und wann erkennen die verschiedenen Ebenen die Notwendigkeit zu Flexibilität, wann zu Härte? Ebraim Raissi, Hardliner-Staatspräsident, erachtete die landesweite Anspannung nach dem Tod der 22-jährigen Frau zumindest als derart brisant, dass er sich zu einem Telefonat mit den Eltern von Mahsa Amiri entschloss – und pathetisch sagte, die Verstorbene sei «wie seine eigene Tochter». Das sollte man allerdings nicht wortwörtlich nehmen – das Farsi strotzt von Formeln, die der Sprache Unkundige in die Irre führen. Aber, immerhin, Raissi distanzierte sich mit seinem Telefonat zumindest von gewissen Machtansprüchen der Sitten-Polizei, vielleicht auch der Basiji, einer noch von Ayatollah Khomeini geschaffenen Truppe von vorwiegend Jugendlichen, die sich «gerne» für ihren Glauben, ihre Ideologie opfern, respektive nach Lust und Laune Iranerinnen und Iraner terrorisieren.
Ob Raissi sich aber substantiell von solchen Kräften distanzieren respektive sie in die Schranken weisen will, weiss niemand, weder innerhalb Irans noch ausserhalb.
Dienende Frauen
Weit über die aktuellen Demonstrationen und Konfrontationen zwischen Reformkräften und Konservativen hinaus führt die Frage nach der Stellung der Frau im heutigen Iran, 43 Jahre nach der Gründung der Islamischen Republik. Die Bilanz ist durchzogen. Reise ich durch Iran, bekomme ich immer wieder das Bild einer relativ emanzipierten Gesellschaft. Mehr als 60 Prozent der Studierenden in den Universitäten, in einigen Institutionen noch mehr, sind weiblich. Es gibt Hochschulen, die auf irgendwelche Weise sicherstellen wollten, dass auch junge Männer den ihnen, prozentual, gebührenden Platz erhalten sollten, aber diese Versuche scheiterten, die «Frauenpower» war und ist einfach zu gross – oder der Hang der Männer zu Trägheit ist allzu weit verbreitet …
Ganz anders sieht es dann im Berufsleben aus: Da verteidigen die Männer offenbar ihre Positionen recht effizient. Das beginnt ganz unten, beispielsweise im Autobus für ausländische Besucherinnen/Besucher – sagt die Reiseleiterin, der Fahrer möge bitte nach rechts abbiegen, biegt er nach links ab. Weiter oben ist das «Spiel» raffinierter – Frauen können Anwältinnen werden, aber wichtige Richter-Ämter sind Männern vorbehalten. Frauen können auch Theologie studieren – aber wenn wir in den religiösen Zentren, etwa in Qom oder Mashhad, nach Verantwortlichen suchen, finden wir nur Männer – Frauen treten, auch wenn sie langjährige Studien absolviert haben, dienend auf. Und im Parlament sind nicht mehr als fünf Prozent der Abgeordneten weiblich.
Nun kann man sagen: Ja, immer noch besser als etwa in Saudi-Arabien oder in Irak. Auch was, beispielsweise, das Autofahren betrifft: Nie wäre es den iranischen «Mächtigen» eingefallen, den Frauen den Platz am Steuer zu verbieten. Doch all das kann nicht verschleiern, dass Iran immer noch eine Macho-Gesellschaft ist, dass sich Frauen jeden Millimeter von Möglichkeiten und Freiheiten erkämpfen müssen.
Weibliche Oberschicht
Das Kopftuch ist zu einem Symbol des Konflikts zwischen Gehorsam und Freiheit geworden. Wer der Ideologie des Regimes nahe steht, will die Frauen unter den «Hijab» zwingen. Die Parteigänger dieser Seite bemühen religiöse Argumente zu ihren Gunsten. Sie sind allerdings ziemlich porös: Erstens ist der Ausdruck «Hijab» historisch in dem Sinne anfechtbar, als damit erstmals, in der arabischen Wortwahl, nicht eine Verhüllung für eine Frau gemeint war, sondern ein Vorhang als Trennung innerhalb eines von zwei Paaren beanspruchten Wohnraums. Zweitens heisst, arabisch, «yahjibu», einfach verhüllen – aber wie, das wird nicht geklärt. Und drittens lässt sich in der Kulturgeschichte der islamischen Welt nachweisen, dass ein «Hijab» nur für die weibliche Oberschicht empfohlen wurde – Frauen, die arbeiten mussten, hatten gar keine Möglichkeit, sich zu «verschleiern».
Zu Iran: Die beiden Schahs (Reza Khan und Reza Pahlavi) wollten ihr Land u. a. dadurch als «modern» anpreisen, dass sie die Kleidung sowohl für Männer wie für Frauen «neuzeitlich» oder «westlich» dekretierten. Reza Khans Vorbild war Atatürk – so, wie die Türkei, so sollte Iran werden. Sein Sohn, Reza Pahlavi, wagte für dieses Thema die Konfrontation mit der islamischen Geistlichkeit. Keine Seite gewann in der Bevölkerung, bei den Frauen Irans, eine Mehrheit – also ko-existierten die Tradition (mit deren Extrem-Ausformung des Tschadors) und die Moderne (offene Haare) scheinbar problemlos.
Verbotene Satellitenschüsseln
Dann kam Khomeini – und mit ihm der so genannte Schleierzwang, also das Obligatorium zumindest für ein Tuch, das vollständig die Haare der Frau bedecken sollte.
All das ist für den öffentlichen Raum gedacht – was Iranerinnen in den eigenen vier Wänden tun oder nicht tun, tragen oder nicht tragen, war und ist dem Regime egal. Was dazu führt, dass Iran «inhouse» bei der Mittelschicht und wohl auch bei den Oberschichten so modisch ist wie die entsprechende Gesellschaft irgendwo im Westen. Sollten Sie sich einmal in einem gehobenen, nicht einmal wirklich luxuriösen, Hotel in Teheran oder auch der angeblich so religiös-konservativen Stadt Mashhad aufhalten und durch die Lobby schlendern, werden Sie unweigerlich Show-Kästen mit Mode-Artikeln sehen – mit Dessous, eleganten Schuhen etc., auch mit verführerischer Bekleidung der Frau für den Alltag. Alles normal in Iran – nur: Normalität gibt es in diesem Land nur im privaten Raum. Ausserhalb, bereits beim Schliessen der Türe der eigenen Wohnung, des eigenen Hauses, ist nichts mehr normal – da gelten die Gesetze der Obrigkeit, gilt die Willkür der Basiji und der Sittenpolizei, der «gasht-e-ersham».
Man kann, mit Recht, ebenso gut sagen: Das ist eine verlogene wie «das ist eine unglaublich mutige» Gesellschaft. Bisweilen schafft sich die «Allgemeinheit» so viel Macht, dass die Institutionen der Mächtigen zu Machtlosigkeit verurteilt werden.
Ein Beispiel: Eigentlich sind Satelliten-Schüsseln für den Empfang ausländischer TV-Programme verboten. Aber schauen Sie einmal von einem Spazier-Ausblickspunkt am oberen Rand von Teheran hinunter auf die Stadt – Sie werden auf den Hochhäusern in der näheren und ferneren Umgebung hunderte TV-Satellitenschüsseln sehen. Gleiches kann man etwa in Täbris oder in Shiraz beobachten – aber wenn man mit Leuten in den betreffenden Städten spricht, erhält man unterschiedliche Antworten. In Shiraz etwa sagte mir einmal jemand: Nun ja, wir platzieren die Schüsseln jeweils ein wenig unter den Baumkronen, so, dass der Empfang noch einigermassen garantiert ist, aber auch so, dass sie von Drohnen nicht erkannt werden können.
Aber was, wenn sie dennoch erkannt und allenfalls von der Sittenpolizei oder einer «wild gewordenen» Einheit jugendlicher Basiji konfisziert wurde? Nun, sagte er, dann warten wir eben so ein oder zwei Wochen – und wir wissen schon, wo wir dann gegen eine bestimmte Geld-Summe das Gerät wieder erhalten.
So funktioniert Iran im Alltag. So funktioniert das Land normalerweise – aber jetzt, nach dem Tod der 22-jährigen Frau, ist diese «Normalität» möglicherweise nicht mehr gültig. Jetzt ist das, was normalerweise für Betroffene nur ein Ärgernis ist, zu blutigem Ernst geworden. Mit ungewissem Ausgang.