Bis heute wird in München der Prozess gegen Beate Zschäpe geführt, die mit ihren beiden Komplizen, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard, eine in der Nachkriegsgeschichte beispiellose Serie von Morden und Sprengstoffanschlägen, begleitet von Raubüberfällen, begangen hat.
Blut-und-Boden-Ideologie
Der Name für diese Täter und ihr Umfeld lautet NSU, „nationalsozialistischer Untergrund“. Diese Bezeichnung ist insofern treffend gewählt, als die Verbrecher keine isolierten Einzeltäter waren, sondern in einem Umfeld lebten, das durch die nationalsozialistische Blut- und-Boden-Ideologie genauso infiziert war – und noch ist – wie sie selber. Sie fühlten sich bei ihren Morden und Terroranschlägen als Vollstrecker einer Notwendigkeit, die aus den vermeintlichen Imperativen der nationalsozialistischen Rassenideologie hervorgeht.
Kaltblütig ermordeten sie in der sogenannten „Ceska-Mordserie“ in den Jahren 2000 bis 2006 acht türkische Mitbürger, einen Griechen und verübten im Juni 2004 ein Nagelbombenattentat in Köln mit zahlreichen Verletzten. Am 25. April 2007 erschossen sie auf der Theresienwiese in Heilbronn die 22-jährige aus Thüringen stammende Bereitschaftspolizistin Michèle Kiesewetter. Das ist schon verstörend genug. Noch verstörender aber ist, dass Behörden des Verfassungsschutzes sogenannte V-Leute in die rechte Szene eingeschleust hatten, diese aber keinerlei Erkenntnisse lieferten, sondern sich möglicherweise selbst an Straftaten beteiligten.
Skandalöse Fakten
Die Folge war, dass die offiziellen Stellen behaupteten, sie könnten diese Morde nicht aufklären und die Motive seien wohl im Umfeld der Ermordeten zu suchen. Man wisse schliesslich, dass die Türken in zahlreiche Konflikte und Rivalitäten untereinander verstrickt seien. – Also waren die Ermordeten mehr oder weniger selber schuld.
Erst als ein aufmerksamer Beobachter die Polizei nach einem Raubüberfall in Eisenach am 4. November 2011 auf einen verdächtigen Wohnwagen aufmerksam machte, begann die Aufklärung. Die Fakten, die ans Licht kamen, waren so skandalös, dass der Bundestag einen Untersuchungsausschuss einsetzte und sich der Bundestag einschliesslich der Bundesregierung im November 2011 bei den Angehörigen entschuldigte.
Schleichende Vergiftung
Das Ungeheuerliche dieser Vorgänge tritt nahezu unscheinbar aus den Kulissen der Normalität. Schon bald nach der Wende von 1989 zeigten sich Rechtsradikale in Dresden, Rostock, Dessau, Erfurt und anderen Orten der „neuen Bundesländer“, aber Lehrer, Polizisten und Politiker wollten sie nicht sehen. Damit wurden sie, ungewollt und unbewusst, eingemeindet. Wie aber lässt sich diese schleichende Vergiftung in fotografischen Bildern darstellen?
Regina Schmeken hat zusammen mit der Journalistin Annette Ramelsberger die Orte besucht, an denen die Morde stattfanden. In Anlehnung an die Blut-und-Boden-Ideologie hat sie ihrem Projekt den Namen „Blutiger Boden“ gegeben. Man sieht also keine Täter und keine Opfer, sondern den Boden, auf dem sich die Untaten ereigneten.
Gefühl der Zweideutigkeit
Die erste Bildserie ist dem Ermordeten Enver Şimşek gewidmet. Der Mord fand am 9. September 2000 in der Liegnitzer Strasse in Nürnberg statt. Die Kamera schaut auf den Boden wie ein Mensch, der den Kopf gesenkt hält. Kanaldeckel, Pfützen, Spiegelungen und am Bildrand Autos, ein Blumenstand; ein Motorroller fährt vorbei. Bäume stehen da wie die Reste jenes Waldes, der die deutschen Romantiker, später einige Naturschützer in den Reihen der NSDAP und manche Strömungen der Öko-Aktivisten bis in die heutige Zeit zu Vorstellungen von einer heilen Welt in der Vergangenheit inspiriert hat. Es entsteht ein beklemmendes Gefühl der Zweideutigkeit, und nach und nach erscheinen die vielfach gebrochenen Böden wie Trümmerlandschaften.
In den folgenden Bildserien hebt sich die Kamera, nimmt Strassenzüge und Gebäude in den Blick. Manchmal sind Strassen und Plätze menschenleer. Man denkt an die futuristischen Bilder von Giorgio de Chirico. Dann wieder tauchen Menschen auf. Manche gehen geschäftig eine Strasse entlang, andere fahren mit den Fahrrad. Es gibt nur eine einzige Gruppe auf einem Bild, und das sind Frauen mit Kopftüchern und traditionellen Gewändern. Allein die Art, wie Regina Schmeken ihre Bilder mal mit, mal ohne Menschen komponiert, weist sie als Fotografin ersten Ranges aus.
Ein weiteres Merkmal ihrer gestalterischen Souveränität liegt in dem Einsatz stürzender Linien. Sie wirken geradezu unabsichtlich, aber sie sind ein wichtiges Stilmittel. Sie erzählen auf ihre Weise davon, dass im Alltag etwas aus den Fugen geraten ist.
Regina Schmeken mutet dem Betrachter aber zu, dass er ihre Bilder aus eigener Kraft deutet. Mit drei Ausnahmen gibt sie keine offensichtlichen Hinweise auf die Mordtaten. Die erste Ausnahme findet sich in der Serie „Dortmund Mallinckrodstrasse“, die Mehmet Kubasik gewidmet ist. Da hat jemand an eine Hauswand geschrieben: „Nazibanden zerschlagen!“ Die zweite Ausnahme befindet sich auf der Seite direkt neben dem Bild von den Frauen mit den Kopftüchern in der Serie „Kassel, Holländische Strasse“ im Gedenken an Halit Yozgat. Da klebt oberhalb eines Plakates mit Tränen ein Blatt mit der Aufschrift: „Nazi? Fuck off!“
Common Sense
Die dritte Ausnahme besteht im letzten Foto des Bandes. Es zeigt eine Tür. Die Legende dazu lautet: „NSU-Prozess im Oberlandesgericht München. 06.05. 2013 Beginn der Verhandlung. Durch diese Tür betritt die Angeklagte den Saal 101A“. Auch eine Tür kann eine Aussage enthalten.
Dem Band sind einige vorzügliche Texte beigefügt, in denen das ganze Leid und das ganze Staatsversagen zum Ausdruck kommen. Und Hans Magnus Enzensberger hat einen kleinen Essay über die Frage beigesteuert, ob unsere Gesellschaft auch deswegen solche Ungetüme wie den NSU produziert, weil ihr der „Common Sense“ abhanden gekommen ist.
Verviefältigter Hass
In den Schlussbetrachtungen von Annette Ramelsberger aber bekommt die von Regina Schmeken fotografierte Tür noch eine zusätzliche Bedeutung. Ramelberger konstatiert, dass hinter den Mauern des Gerichts die Serie der Verbrechen aseptisch seziert wird. Dennoch entstehe dabei eine „Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft“. Dadurch entstehe das Bild einer „Parallelgesellschaft“. Dieses Bild habe auch sie verändert: „Doch nun verlasse ich den Saal, klappe den Computer auf und sehe die Menschen aus dem NSU-Prozess plötzlich überall: in Clausnitz, in Bautzen, in Freital, in Dresden. Der Hass der Terrorzelle hat weite Teile der Gesellschaft erfasst. Es fühlt sich an, als wenn sich der NSU und seine Freunde vervielfältigt hätten."
Regina Schmeken, Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU, mit Texten von Matthias Rogg, Gorch Pieken, Katja Protte, Hans Magnus Enzensberger, Barbara John, Feridun Zaimoglu, Annette Ramelsberger, Hrsg. Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden, Gestaltung von Marc Naroska, 144 Seiten, 80 Abb., Hatje Cantz Verlag, Berlin 2016
Ausstellung: Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden 3.11.2016–7.5.2017