Alle früheren Parlamente waren vorzeitig aufgelöst worden, fast immer durch militärische Eingriffe. Neuwahlen hatte es bisher stets nur nach längeren oder kürzeren Perioden nicht-parlamentarischer Regierungen gegeben. Die längsten dieser nicht-parlamentarischen Diktaturen waren jene von General Ayyub Khan (von 1958 bis 1969) und jene von General Zia ul-Haqq (1977-1988).
Das nun zurückgetretene erste Parlament, das seine ganze Amtsperiode vollendete, war 2008 nach dem Mord an Benazir Bhutto gewählt worden. Es wurde getragen von der PPP (Pakistan People's Party), der Bhutto-Partei. Sie hatte nach dem Mord von Benazir Bhutto die Wahlen klar gewonnen. General Musharraf, der letzte Militärherrscher, war ins Ausland geflüchtet. Er regierte von 1999 bis 2008. Musharraf lebte nach seiner Flucht in London und in Dubai. Er war kurz vor den Wahlen nach Pakistan zurückgekehrt. Er verlangte, dass seine Partei und er selbst bei den Wahlen kandidieren können.
Hausarrest statt Kandidatur
Doch die Gerichte verboten eine Kandidatur. Musharraf ist mehrerer Vergehen angeklagt. Er soll sich vor Gericht dafür verantworten, dass er als Präsident versuchte, den Vorsitzenden des Obersten Gerichtes, Muhammad Chaudhri, abzusetzen. Ferner wird ihm vorgeworfen, dass er Benazir Bhutto nicht genügenden Schutz gewährt habe, als sie nach Pakistan kam, um ihre Wahlkampagne zu führen. Musharraf wird auch verantwortlich für den Mord des Belutschen-Politikers und Stammesführers Bukti Khan gemacht. Bukti Khan war am 6. August 2006 ermordet worden. Die Belutschen traten daraufhin in einen Aufstand, der heute noch nicht beigelegt ist.
Die Richter haben angeordnet, dass der ehemalige General und Militärherrscher unter Hausarrest bleibe bis seine Prozesse entschieden seien. Das Obergericht hat zudem verboten, dass er für die Wahl kandidiere.
Zurückhaltende Militärs
Die Militärs sind diesmal bereit, die Wahlen zu dulden. Sie haben sogar 70‘000 Mann des Heeres zur Verfügung gestellt, um zusammen mit vielen Tausenden von Polizisten, den Wahlgang zu sichern. Die Zurückhaltung der Offiziere hat wohl damit zu tun, dass Pakistan schwierige Zeiten bevorstehen. Der geplante Abzug der Nato-Truppen und besonders der Amerikaner aus Afghanistan, der 2014 bevorstehen soll, dürfte die gesamte weltpolitische, innenpolitische und wirtschaftliche Lage Pakistans verändern.
Seit der Machtherrschaft Musharrafs und seit den Anschlägen vom 11.September 2001 haben Pakistan und die USA eng zusammengearbeitet. Washington hat Islamabad mit bedeutenden Hilfsgeldern unterstützt. Den Amerikanern war bewusst, dass Pakistan heimliche Verbindungen zu al-Qaida und andern islamistischen Gruppen unterhielt. Doch diese Verbindungen wurden während langen Jahren ignoriert, denn für die Amerikaner war wichtig, dass Pakistan das amerikanische Engagement in Afghanistan tatkräftig unterstützte.
Taleban-Anschläge
Doch wenn die Amerikaner aus Afghanistan abziehen, wird Pakistan auf sich allein gestellt sein. Es muss einen Modus Vivendi mit der Macht oder den Mächten finden, die im nördlichen Nachbarland dann das Sagen haben.
All dies erklärt, dass die Militärs diesmal nicht auf die Wahlen Druck ausüben, und dass sie gewillt sein dürften, zunächst einer gewählten Regierung die Verantwortung für die schwierige Politik der kommenden Jahre zu überlassen.
Überschattet werden die Wahlen von terroristischen Anschlägen. Verantwortlich dafür sind die Terroristen der TTP , der "Bewegung der Pakistanischen Taleban" (Tehrik-e- Taleban-e-Pakistan). Diese Organisation, die in den Pashtunengebieten des pakistanischen Nordens ihren Ursprung genommen hat, sich aber heute sowohl über Punjab wie auch nach Karachi hin ausgedehnt hat, verübt Bombenanschläge und Selbstmordattentate. Die Taleban wüten seit dem Jahr 2007. Damals waren sie aus Islamabad vertrieben worden. Zuvor hatten sie versucht, die Rote Moschee in der Hauptstadt als Zentrum ihrer Agitation zu benutzen.
Politiker „hinrichten“
Seither versucht die TTP den pakistanischen Staat durch Bombenanschläge soweit zu erschüttern, dass er in sich zusammenstürzt. Auf seinen Trümmern möchten sie einen "Islamischen Staat" errichten. Die TTP arbeitet gelegentlich mit anderen gewaltwilligen islamistischen Organisationen zusammen, etwa mit dem auf den Mord von Schiiten spezialisierten "Heer der Reuigen", Lashkar at-Taibe. Diese Gruppe hat während der letzten acht Jahre Hunderte von Bombenanschlägen verübt, die Tausende Tote gekostet haben. Die Terroristen haben drei Parteien im Visier: Die bisher regierende PPP, die ihren Schwerpunkt in Sind aufweist.
Zweitens, die an der Regierungskoalition beteiligte Nationale Awami-Partei (ANP), die Hauptpartei der nördlichen Grenzgebiete, und – drittens - die Partei der Urdu sprechenden Muslime aus Indien, die 1947 zur Zeit der Lostrennung Pakistans nach Pakistan ausgewandert sind, die MQM (Muhajer Qwami Movement, Nationale Bewegung der Auswanderer), deren Hauptgewicht in Karachi liegt. Sie war ebenfalls an der bisher regierenden Koalition beteiligt.
Die TTP hat im Hinblick auf die Wahlen angekündigt, sie wolle Politiker dieser drei Parteien „hinrichten“. Ebenso würden die Teilnehmer an ihren Wahlversammlungen getötet.
Zwei Parteien sind nicht bedroht
Nicht mit „Hinrichtung“ drohen die TTP-Terroristen zwei weiteren Parteien. Sie haben ihren Schwerpunkt in Punjab und stehen sich dort gegenüber. Es handelt sich um die Partei des Altpolitikers Nawaz Sharif und um jene des Neuaufsteigers und ehemaligen Cricket-Stars Imran Khan.
Nawaz Sharif war Ministerpräsident bevor Musharraf ihn absetzte. Seine Partei heisst Muslim Liga (N).(N.für Nawaz) um sie von einer anderen Muslim Liga zu unterscheiden, von der sie abgespalten ist.
Imran Khan ist der Anführer der von ihm neu gegründeten "Gerechtigkeitsbewegung" (Tehrik-e Insaf). Unklar ist, wie weit er sich gegen den eingespielten Politapparat von Nawaz Sharif durchsetzen kann. Denkbar ist aber, dass es Imran Khan gelingt, Nawaz Sharif so viele Stimmen abzujagen, dass die Muslim Liga (N) noch einmal gegenüber der PPP der Bhutto-Familie den Kürzeren zieht.
Die Awami-Partei als Hauptziel des Terrors
Nur diese zwei bisherigen Oppositionsparteien können ihre Wahlkampagne ohne Angst vor Anschlägen der TPP durchführen. Die Kandidaten der andern Parteien müssen damit rechnen, von irgendeinem Motorradfahrer erschossen zu werden. An Wahlveranstaltungen explodieren Bomben.
Die Nationale Awami-Partei der Nordgrenzgebiete hat am meisten zu leiden. Viele ihrer Politiker haben ihr Leben verloren. Immer wieder wurden während Wahlkundgebungen Sprengsätze gezündet. Deshalb haben sich die Awami-Politiker entschlossen, auf grosse Wahlveranstaltungen zu verzichten. Wahlkampf wird jetzt nur noch von Haus zu Haus und an einzelnen Strassenecken betrieben. Die Politiker der PPP sind diesem Beispiel gefolgt, obwohl sie weniger Tote als die Awami-Partei zu beklagen haben.
Manche kritische Beobachter meinen, die bisherige Regierungspartei habe ohnehin schlechte Aussichten auf einen Wahlsieg und nehme daher die Gelegenheit wahr, die Terroristen für ihren bevorstehenden Prestigeverlust verantwortlich zu machen.
“Im Prinzip gegen die Demokratie“
Die dritte von den Terroristen aufs Korn genommene Partei, das MQM von Karachi, hat den Kampf gegen die Taleban aufgenommen. Sie hat ihre eigenen kampferprobten Pistoleros. Trotzdem ist auch ein MQM-Politiker, ein bisheriger Parlamentarier, bei einem Mordanschlag ums Leben gekommen.
Insgesamt sollen während des Wahlkampfs bisher etwa 70 Personen, vor allem politisch Verantwortliche, umgekommen sein.
Die Sprecher der islamistischen Terroristen, die sich meist übers Internet äussern, haben erklärt, sie seien im Prinzip gegen alle Parteien, sowie auch gegen die Demokratie, weil diese alle einem "Islamischen Staat", so wie sie ihn anstrebten, widersprächen. Doch aus Gründen, die sie nicht zu erklären gedächten, wollten sie die beiden Punjab-Parteien, jene von Nawaz Sharif und jene von Imran Khan, vor Anschlägen verschonen.
Natürlich löste dies Spekulationen darüber aus, was die Gründe sein könnten. Die Muslim Liga (N) von Nawaz Sharif war immer bemüht, den islamischen Autoritäten und Politikern nahe zu stehen. Der Neupolitiker Imran Khan hat mit seiner Gerechtigkeitsbewegung einen scharf anti-amerikanischen Kurs eingeschlagen. Er sieht in dem Bündnis mit den Amerikanern die Quelle aller Übel, unter denen Pakistan leidet. Beide Tendenzen dürften den gewalttätigen Islamisten gefallen.
Taktische Überlegungen der Taleban?
Doch andere Beobachter vermuten, dass taktische Überlegungen das Verhalten der Terroristen bestimmen. Sie meinen, wenn eine der beiden Parteien aus dem Punjab, der grössten und volksreichsten aller Regionen des Vielvölkerstaates Pakistan, an die Macht käme, fühlten sich die anderen kleineren Ethnien des Landes zurückgesetzt und von der Macht verdrängt: etwa die Pashtunen des Nordens, die ohnehin aufsässigen Belutschen des Südwestens, die Urdu-Zuwanderer des MQM in Karachi, die Sindis der PPP in Sind, der Südprovinz Pakistans. Bei all diesen zurückgestuften und von der Macht verdrängten Völker würden dann – so wird spekuliert – Ressentiments entstehen. In dieser Situation fänden die TTP-Agitatoren dann gute Voraussetzungen für die Verbreitung ihrer Ideen.
Eingeschüchterte Bevölkerung
Warum umgekehrt die Awami National Party das Hauptziel der Terroristen ist, liegt auf der Hand. Die links stehende und säkular ausgerichtete ANP hatte bei den Wahlen im Jahr 2008 in den Nordprovinzen, ihrem Ursprungsgebiet, den TTP-Leuten den Rang abgelaufen.
Ihr Sieg wurde damals als ein Beweis dafür gewertet, dass die Macht der Taleban-Bewegung in Pakistan keineswegs auf den Sympathien der Mehrheit der Bevölkerung beruht, sondern nur auf der immer wieder durch Bluttaten geschürte Angst, die sie unter der Bevölkerung verbreiten.
Nach den Wahlen von 2008 ist es den Taleban gelungen, mehrere Awami-Politiker zu ermorden. Viele wurden durch Drohungen gezwungen, ihre pashutnischen Nordprovinzen zu verlassen. Die pakistanische Armee und die Polizei waren nicht fähig, die Politiker der Mehrheitspartei der Nordprovinzen zu schützen. Jetzt versucht die TTP die Bevölkerung und die Politiker der Nordprovinzen derart einzuschüchtern, dass sie gar nicht zu den Urnen gehen - und damit einen Sieg der ANP verhindern.
Die Jugend will wählen
Trotz des Terrors, der die Wahlkampagne begleitet, sehen einige Beobachter auch positive Zeichen. Hervorgehoben wird vor allem der politische Enthusiasmus der jungen Generation. Etwa 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler wählen zum ersten Mal. Man könnte deshalb von einer Jugendwahl sprechen. Viele dieser jüngeren Wähler setzen sich leidenschaftlich für den Wahlvorgang ein und scheinen gewillt und aktiv beflissen, der Demokratie in ihrem Land eine echte Chance zu verschaffen. Dies braucht in einem Land, in dem Wahlversammlungen wie ein Magnet Bombenanschläge anziehen, viel Mut und Begeisterungsfähigkeit.