Die Zusammenstösse vor dem Gebäudekomplex der Republikanischen Garde in Kairo haben nach den jüngsten Aussagen um die 50 Tote gefordert. Die Zahl der Verletzten ist unklar. Sie muss in die Hunderte gehen. Was genau geschah, wird von beiden Seiten sehr unterschiedlich geschildert.
Die Versionen der Muslimbrüder und der Armee
Die Muslim Brüder, die dort permanente Demonstrationen unterhalten, liessen verlauten, sie seien beim Beten gewesen und im Gebet "von der Armee" überfallen und scharf beschossen worden. Andere ihrer Wortführer sagen, der Beschuss sei seitlich gekommen, von "Unbekannten in Zivil". Dies habe die meisten Toten gekostet, spätere Wirren noch mehr.
Die Armee, die den Eingang in den Gebäudekomplex absperrt, in dem vielleicht Mursi gefangen sitzt, behauptete, sie sei durch "Terroristen" unter Beschuss gekommen, die versucht hätten, den Gebäudekomplex zu stürmen. Sie erklärte, ein Offizier sei getötet und über 40 Soldaten seien verletzt worden.
Provokateure am Werk?
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es in der Tat "Terroristen" einer dritten Kraft waren, die die Zusammenstösse begannen. Dies liegt in den Gepflogenheiten der Sicherheitsleute von Kairo. Sie setzen immer wieder Provokateure ein, wenn sie sich grossen Volksmassen gegenüber befinden, deren Zusammenballung sie aufzubrechen versuchen.
Ihre Instrumente dabei sind bezahlte Verbrecher- und Schlägerbanden. Doch dies lässt die Frage offen, wer ihren Einsatz organisiert und ausgelöst habe. Er liegt nicht im Interesse der Armee. Sie sieht sich nun von den gefährlichen Folgen der Aktion konfrontiert.
Gegen Demokratiepläne?
Es ist durchaus denkbar, dass es nach wie vor Elemente in der Polizei und dem mit ihr verbundenen Geheimdiensten gibt, die darauf ausgehen, die Lage weiter zu verschlechtern, möglicherweise mit dem Ziel, einen zweiten demokratischen Neubeginn zu verhindern und die Armee zu zwingen, zu einer "gelenkten" Pseudo-Demokratie zurückzukehren, wie sie unter Mubarak bestand.
Die Armee liess verlauten, eine Untersuchung der Vorfälle habe bereits begonnen. Doch derartige Untersuchungen haben bisher nie zur Klärung der wahren Zusammenhänge geführt. Der Sicherheitsapparat ist gut eingespielt, wenn es darum geht, durch angebliche Zeugenaussagen und von den Verantwortlichen gestützte Gegendarstellungen die Wahrheit zu verschleiern und zu entstellen.
Jeder glaubt seinen Wortführern
Dies lässt dann beide Seiten frei, ihre Darstellung als die einzig wahre aufzufassen. Die Brüder werden gewiss sein, dass sie "im Gebet" von der Armee überrascht und zusammengeschossen wurden. Die "Säkularisten" werden annehmen, dass die Muslimbrüder "wild geworden" seien und die Armee angegriffen hätten, wahrscheinlich mit dem Zweck, Blut zu vergiessen, damit ein reibungsloser Übergang zu einer "zweiten Demokratie" erschwert oder verunmöglicht werde.
Resultat ist fast unvermeidlich, dass der Graben zwischen den beiden Parteien vertieft und durch die beiden gegensätzlichen Darstellungen auszementiert wird.
Die Rolle der "Nour"-Partei
Die "Nour"-Partei ist die grösste Partei der Salafisten. Sie war aus den Parlamentswahlen von Ende 2011 als die zweitgrösste Partei Ägyptens hervorgegangen. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen von der Partei der Brüder getrennt, während andere, kleinere salafistische Parteien weiterhin zu ihnen hielten. Der Streit mit der Partei der Bruderschaft war entstanden, weil "Nour" sich bei der Besetzung von Positionen in der Verwaltung von der Bruderschaft übergangen fühlte.
Streit über den nächsten Regierungschef
"Nour" hatte auch dem Eingriff der Armee zugestimmt. Allerdings nicht so begeistert wie die säkularistischen Parteien. Doch dann hat "Nour" begonnen, den Plan der Offiziere und der säkularen Parteien zu hinterfragen. Mohamed Baradei schien bereits zum Ministerpräsidenten der Übergangsregierung ernannt. Er war vom neuen Präsidenten, Adli Mansur, empfangen worden und die staatliche Nachrichtenagentur meldete seine Ernennung.
Doch dann verlautete, die Ernennung habe nicht stattgefunden. Sprecher von "Nour" erklärten, ihre Partei werde die Mitarbeit in der Übergangsregierung verweigern, wenn er Ministerpräsident werde. "Nour" habe zwei Einwände gegen Baradei. Er sei nicht, wie versprochen "ein Technokrat", und es sei falsch, einen ausgesprochenen Feind der Muslimbrüder zum Regierungschef zu ernennen, weil dies eine jede Aussöhnung mit ihnen verunmöglichen würde.
Hat "Nour" eigene Ambitionen?
Neue Konsultationen mussten eingeleitet werden. Es gab einen zweiten Vorschlag, Ziad Baha ad-Din, den Vorsitzenden der Sozial-Demokratischen Partei, zum Regierungschef zu ernennen und Baradei zu seinem Stellvertreter. Doch "Nour" wies dies ebenfalls zurück. Möglicherweise dachten die Häupter von "Nour", sie selbst wären am besten geeignet, um Muslimbüder und Säkularisten gemeinsam zu regieren.
Blut scheidet die Parteien
Dies geschah vor den jüngsten blutigen Zusammenstössen. Nach diesen Ereignissen erklärte "Nour", angesichts "des Massakers" ziehe die Partei sich zurück und werde nicht mit der - noch zu bildenden - Übergangsregierung zusammenarbeiten. Dies eröffnet die mögliche Aussicht auf eine gemeinsame Front zwischen den Brüdern und Nour, eine Entwicklung, welche die Armee unbedingt vermeiden muss, wenn sie ihren Plan für den zügigen Aufbau eines demokratischen Regimes verwirklichen will.
Eine solche "islamistische" Font würde das Land in zwei gleiche Hälften teilen, die einander bekämpften. Dies liesse der Armee nur noch den Ausweg, beide Parteien niederzuschlagen und die Macht direkt selbst auszuüben. Also genau den Weg, den die Armee zu vermeiden suchte. Das böse Wort vom möglichen "Bürgerkrieg" fällt bereits hie und da in den politischen Kommentaren. Der Oberste Gottesgelehrte der Azahr Moschee und Universität, Ahmed Tayeb, hat vor einem Bürgerkrieg gewarnt und erklärt, er werde sich schweigend zurückziehen, bis die Lage sich kläre.
Islamische Solidarität?
Es gibt nur Vermutungen darüber, warum "Nour" sich losgesagt hat. Gewiss sind die salafistischen Verantwortlichen schockiert über das Vergiessen des Blutes von gläubigen Muslimen, wie es die Brüder zweifellos sind. Die Parteileitung muss auch mit den Gefühlen der Parteimitglieder rechnen. Sie würden schwerlich verstehen, dass ihre Partei sich auf die Seite der "Ungläubigen" gegen jene der "Gläubigen" stellt.
Abdel Moneim Abdel Futuh, ein früherer Bruder, der sich mit seiner Partei, der "Partei des Starken Ägyptens", von der Bruderschaft getrennt hat und zu den Kritikern Mursis hielt, sah sich durch das "Massaker" veranlasst, den Rücktritt des soeben eingesetzten neuen provisorischen Präsidenten, Mansour, zu fordern. Dies zeigt, wie stark sich die Islamisten, gleich welchen Lagers, betroffen fühlen.
Die Salafisten fühlten sich übergangen
Doch die Zurückweisung Baradeis zeigt auch, dass schon vor dem "Massaker" Reibungen zwischen "Nour" und dem sich erst formierenden neuen Regime bestanden. Man kann vermuten, dass "Nour" überrascht war von dem Ton herzlicher Solidarität zwischen "den Offizieren" und den "Säkularisten", der sich nach dem Eingriff der Armee abzeichnete. Diese beiden Partner waren offenbar bereits vor dem Armee Eingriff miteinander in Kontakt gestanden. "Nour" wohl nicht oder weniger.
Die Salafisten sahen sich mit einem fertigen Plan konfrontiert, der sie nicht wirklich zu berücksichtigen schien. Dies dürfte ihre Chefs dazu veranlasst haben, ihr politisches Gewicht auszuspielen und ihre Unentbehrlichkeit klar zu machen.
Weder Geld noch Regierung
Die Folge von alledem ist, dass Ägypten ohne Regierung dasteht. Wie lange noch, bleibt offen. Doch gemeldet wird, dass der Präsident der ägyptischen Zentralbank nach den Vereinigten Arabischen Emiraten geflogen ist, um Geld zu erbitten. Die Emirate sind, im Gegensatz zu Qatar, keine Freunde der Muslimbrüder. In Abu Dhabi läuft ein Grossprozess wegen Hochverrat gegen sie und einige mehr oder weniger enge Gesinnungsgenossen. Qatar hat zur Zeit Mursis Anleihen gewährt. Trotzdem sind die Reserven der Zentralbank unter das Niveau abgesunken, das vom IMF als das absolut notwendige Minimum angesehen wird.