Roger Rightwing hatte unter anderem geschrieben: “Ich hörte ihr lange zu, wie sie von ihrer Familie in Melbourne sprach, von ihrem Bruder, der gerade einen Surfclub eröffnet, von ihrer Schwester, die sich mit Mel Gibsons ältestem Sohn verlobt hatte.” Es sei ein schöner sommerlicher Maitag gewesen, der See habe gelächelt und zum Bade geladen. Meist sprach Marie-Lou, vor allem über das Leben echter Anglo White Saxons, “ganz Arbeit, Cricket und Grill im Garten”. Rightwing bezeichnete sich als meinungsbildenden “Number-One-Kommentator”, der zuhören könne: “Man muss Frauen reden lassen. Jeder Mann, der sich beim ersten Date vor ihnen aufbläst, hat verloren.”
Es folgt nun ein längerer zusammenhängender Auszug aus dem Interview, das Marie-Lou Rightwing zeitgleich der Frauenzeitschrift "Barbarella" gab.
“Roger ist ja so kindlich, er rührt einen. Mich jedenfalls. Da schrieb er mir, wie er auf der Redaktion gleichzeitig vier Bildschirme beobachte und zwei davon bearbeite, aber auf einen Wetterbericht schauen, das kann er nicht. Er schlug das Date kurzfristig vor, und als ich auf meine Google-Startseite blickte, sah ich: Für Zürich waren Temperaturen unter zehn Grad und heftige Niederschläge vorhergesagt.
Ich wartete gut gewappnet am Quai auf ihn, eingemummt von oben bis unten, während er im leichten Leinenanzug in die Pfützen beim Bürkliplatz trat und patschnass bei mir ankam. Zur Sicherheit wedelte er mit dieser etwas bizarren, knallgelben Zeitschrift, die er herausgibt. Der Titel meinte etwas in der Art: WESHALB ES KEIN SKANDAL IST, WENN KINDER IN MOMBASA FUSSBÄLLE ZUSAMMEN NÄHEN. Seltsam, dass ich das in Erinnerung behalten habe, vielleicht aber auch deshalb, weil Roger mich gleich über die Lage in der Dritten Welt aufklärte, als wir schlotternd im Restaurant auf dem Schiff einen Tee tranken.
Humankapital sei auch ein Kapital, und im Falle der Dritten Welt seien dies eben Kinder. In Rio streiften diese Kinder in Banden herum und raubten die Läden aus. Deshalb - Sie sehen, wie gut ich alles behalten habe - sei ein Einsatz in der Fabrik ab vier Jahren (a) eine Sicherheitsmassnahme und (b) eine der wenigen markttauglichen Verwendungen von Ressourcen in armen Ländern.
Er kann witzig sein, wissen Sie. Ich schaffte es, eine Zwischenfrage zu stellen: ‘Warum gerade ab vier Jahren?’
‘In Rio haben sie einen Vierjährigen mit einer Knarre erwischt, der einen Juwelier ausrauben wollte. So ein Knirps kann auch an einem Fliessband stehen.’
Er wollte unbedingt meine Haare sehen, als zog ich die Kapuze nach hinten. ‘Gefärbt?’, fragte er.
‘Nein, ich habe immer schon rote Haare gehabt. Na ja, rotblond.’
Ich hätte ein Kompliment erwartet, aber da begann sein erstes Handy zu tuten. Er hatte zwei I-Phones und einen Blackberry bei sich. Als das Schiff in Wollishofen hielt, tippte er den Fahrplan auf seinem Handy an und stellte fest: ‘Wir haben zwei Minuten Verspätung.
Er kontrollierte dann alle Einfahrts- und Abfahrtszeiten, bis das Schiff die Runde gemacht hatte und in Küsnacht mit viereinhalb Minuten Verspätung anlegte.
‘Jetzt siehst du, warum es uns braucht. Wir wollen nicht, dass so etwas einreisst. In der Schweiz, Schatz, ist Pünktlichkeit eine Religion.’
Im Restaurant Sonne erklärte er mir den Drogenkrieg in Mexiko, die Wachstumsaussichten Brasiliens, den baldigen Bankrott des Euro, das - sinnvolle, so meinte er - Verbot von Minaretten, die Strahlkraft der Atomenergie, die Krise der NASA, die Wirren um die Planung eines Fussballstadions in Zürich, den Niedergang der Sozialdemokratie, die Relativitätstheorie, den Kalorienbedarf eines gesunden Menschen, die - zu niedrige - Eigenkapitalrendite der Banken, das nationalsozialistische Gedankengut der Grünen, den Moloch Brüssel und die Ardennenoffensive.
Ich weiss, dass unsichere Männer beim ersten Date unglaublich nervös sind und nicht aufhören können zu reden, aber Roger hatte etwas Rührendes: Er war wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter eine Zeichnung nach der anderen bringt und sich von ihr dafür streicheln lässt. Um beim Bild zu bleiben: In knapp vier Stunden hat Roger bestimmt vier Zeichenblöcke à je hundert Blättern verbraucht.
Dass wir die Rechnung im Restaurant Sonne dann nicht einmal geteilt haben, sondern dass ich meine zwei Deziliter Cabernet Sauvignon selbst bezahlen musste, da Roger nur Leitungswasser trinkt, hat mich ein wenig irritiert. Am Bellevue hat er mir dann aber eine Mövenpick-Kugel Pistacchio spendiert - er sagte: ‘Das ist das teuerste Glacé in Zürich’ -, ich habe also nur die zweite Kugel Walnuss bezahlen müssen. So schleckte ich ein Glacé im strömenden Regen, während ich auf das Tram wartete. Roger musste dringend auf die Redaktion zurück, aber bevor er ins Taxi stieg, gab er mir ein Küsschen.
Es war anstrengend, aber lustig. Ich holte mir eine fürchterliche Erkältung, und als ich schwitzend im Bett lag, dachte ich: In was für einem Land bin ich hängen geblieben, als ich von Melbourne wegzog, wenn dieser Mann hier meinungsbildend ist?
Am Ende fand ich das Land genauso rührend wie meinen Roger und so habe ich sowohl ihn als auch das Land geheiratet.