Seit den 1960er Jahren ist Ingeborg Lüscher (*1936, lebt in Tegna im Tessin) mit ihren Werken im In- und Ausland präsent. Ihre Retrospektive macht deutlich, dass die Ausgangspunkte ihrer Kunst stets in ihrem privaten Leben und Empfinden liegen.
Die internationale Bühne der bildenden Kunst betrat Ingeborg Lüscher 1972 an der Documenta 5 in Kassel. Deren Generalsekretär Harald Szeemann lud sie ein, in der Abteilung «Bildnerei der Geisteskranken» ihre Foto- und Textdokumentation über den im gleichen Jahr verstorbenen Armand Schulthess zu zeigen. Der ehemalige Beamte im Bundesbern baute sich in einem Kastanienwald bei Auressio im Onsernonetal auf Hunderten von Büchsendeckeln und anderen Informationstafeln ein Kompendium seines Wissens und seiner Spekulationen auf – ein faszinierendes rhizomisierendes Gewusel, wie es sich bestens zum damals von Szeemann und anderen neu eingeführten Kunstbegriff der «Individuellen Mythologie» fügte.
Bereits 1955 schrieb die Westschweizer Schriftstellerin S. Corinna Bille eine Erzählung über den noch anonymisierten Schulthess, und 1964 veröffentlichte Theo Frey erste Fotoreportagen über ihn. Um 1970 lernte Ingeborg Lüscher den scheuen Sonderling und Einsiedler kennen, freundete sich mit ihm an, fotografierte sein «Reich» und rettete auch einiges Informationsmaterial. Die Documenta-Präsenz steigerte den internationalen Bekanntheitsgrad von Armand Schulthess und auch jenen Ingeborg Lüschers.
«Verstummelungen» als Lebenszeichen
Teile von Lüschers Dokumentation haben Eingang gefunden in die erste Tessiner Retrospektive der Künstlerin im Museo d’arte in Mendrisio.
Der Blick geht aber bis in die Zeit vor der Documenta 5 zurück und beginnt mit den «Verstummelungen», mit einer Gruppe von Objekten, die sich anderen Lebensspuren als jenen von Armand Schulthess widmen, aber immerhin auch Lebensspuren – nämlich Zigarettenstummeln, die auf ihre Weise von gelebter Zeit erzählen und zu witzigen und zugleich hintergründigen Wortspielen um «Stummel» und «stumm» Anlass geben können, und die, wenn denn die Künstlerin all die Zigaretten selbst geraucht hat, auch eine persönliche Note ins Spiel bringen. Eines dieser Objekte hat die Form eines halb geöffneten Buches und scheint drohend die Zähne zu blecken (Bild oben).
Was sie als Künstlerin in Gang setze, müsse stets mit ihrem Innersten und Persönlichsten zu tun habe, sagt Ingeborg Lüscher. Das sagen andere Künstler auch, und bei manchen trifft es auch zu. Viele machen daraus eine Affäre. Lüscher nimmt es als Selbstverständlichkeit und bleibt diskret. Dieses Persönliche, im eigenen Leben Verortete zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Armand Schulthess muss sie mit seinem ganzen Wesen persönlich fasziniert haben.
Die «Verstummelungen» macht sie zu Metaphern des lebendigen Alltags. Beispielhaft wird dieser Bezug aufs Persönliche auch in der Foto-Serie «Die unbezähmbaren Linien und das weite Feld» (2015) umgesetzt: Die höchst subtilen und von wunderbaren Grau-Abstufungen lebenden Fotos scheinen tatsächlich, wie ihr Titel sagt, ein «weites Feld» zu zeigen und ins Ungegenständliche vorzustossen. Doch was wir sehen, sind extrem vergrösserte Hautpartien der über 70-jährigen Künstlerin selber.
Autobiographie in Bildern
Man könnte die Ausstellung in Mendrisio – von Ingeborg Lüscher mit dem Titel «Der Himmel auf dem Boden der Erde» versehen – als eine Autobiografie in Bildern lesen, die immer wieder andere Aspekte des langen Künstlerinnenlebens ins Spiel bringt. Die Grundstimmung ist, bei allen Schattierungen, die jedes Leben mit sich bringt, heiter oder gar beglückend, wie es schon der Ausstellungstitel andeutet.
Prägend ist dabei zweifellos die Lebens- und Liebesgemeinschaft mit dem Ausstellungsmacher Harald Szeemann (1933–2005), die im Documenta-Jahr 1972 einsetzte und bis zum Tod Szeemanns andauerte. Lüscher liess sie teils mit Schalk, teils tiefgründig in ihre Kunst einfliessen. Mit Schalk: «Damit Du durch Venedig gehen kannst und keiner Dich erkennt – Tarnkappe für einen gesuchten Mann» (1998), ein riesengrosses Kostüm aus Palmblättern, soll die Anonymität des berühmten Partners bewahren helfen. Tiefgründig: «Harry und Una» (1981) ist eine grossformatige Malerei aus verschiedenen Materialien, welche die zärtliche Zuneigung des Vaters zur damals sechsjährigen gemeinsamen Tochter Una mehr andeutet als realistisch schildert.
Freundinnen und Aussenseiter
In ihr Privates lässt Ingeborg Lüscher auch in der Serie «Zaubererfotos» blicken, einem von 1976 bis heute vorangetriebenen Langzeit-Projekt. Sie gibt dabei die Regie aus der Hand und lässt über 500 Künstlerinnen und Künstler, Galeristen und andere Freundinnen und Freunde aus ihrem und Szeemanns Kreis nach ihrem eigenen Gusto und spielerisch vor der Kamera als Zauberer agieren. Das Resultat ist ein Biotop witzig-ironischer Selbstdarstellungen kreativer Persönlichkeiten. Es sind zum Beispiel Xanti Schawinsky, Lucio Amelio, James Lee Byars, Pipilotti Rist, Richard Serra, Andy Warhol, Daniel Spoerri, Jonathan Meese und viele andere.
Da finden sich aber auch die eigene siebenjährige Tochter Una oder Laurence Pfautz, ein höchst gebildeter deutscher Sonderling und Aussenseiter. Der klopfte 1982 eines Tages an Ingeborg Lüschers Tür: Er habe in einer Universitätsbibliothek ihr Buch über Armand Schulthess gelesen und hoffe auf ihr Verständnis – und «nistete sich bei uns ein wie eine Zecke», wie Lüscher in einem Interview gestand.
Als Langzeit-Projekt mit Start im Jahr 1989 ist auch «Pesto Cotonese»: Ingeborg Lüscher formte aus Flusen, wie sie im Wäschetrockner zurückbleiben, Kleider (Röcke, Hosen, Wäsche, Strümpfe), die sie auf dem Boden eines Museumsraumes ausbreitet. Die pastellfarbenen Stücke lassen mit Sorgfalt und Hingabe Alltägliches, wie es auch das Leben einer Künstlerin prägt, zu Wort kommen und verbinden Ästhetisches und Privates zur Lebenseinheit.
Ingeborg Lüscher scheint, für eine Autodidaktin vielleicht typisch, ihre künstlerische Arbeit nicht einem vorab ins Auge gefassten Plan zu unterwerfen. Sie schöpft wohl einzelne Themen oder Materialien aus, die ihr fruchtbar erscheinen, doch diese Themen und Materialien ergeben sich aus ihren unmittelbaren Lebenssituationen heraus.
Die Kontinuität ihres Schaffens manifestiert sich in dieser Übereinstimmung von Kunst und Alltag und nicht in einer logisch sich ergebenden Abfolge künstlerischer Strategien. Nicht jedes Werk, aber jede Werkgruppe kann zum Neubeginn führen und die Künstlerin auf neue Weise herausfordern – und die Betrachterinnen und Betrachter überraschen wie zum Beispiel die Fotoserie «Voglio vedere le mie montagne» (1999). Auf den ersten Blick haben die Bilder nichts zu tun mit den berühmten letzten Worten des sterbenden Segantini auf dem Schafberg und ebenso wenig mit der Installation von Joseph Beuys mit dem gleichen Titel – oder etwa doch? Eher steht ein privates generelles Bekenntnis zur Landschaft im Vordergrund: Lüscher sah die Berge, wo sie nicht sind – im Sand am Meeresstrand als subtile Spuren der sich kräuselnden Wellen.
Einen Neubeginn (und in ihrer politischen Schärfe eine Art «Fremdkörper» in der Kunst Lüschers) ist die Video-Arbeit «Die andere Seite» (2009–2010). Aus ihrer persönlichen Betroffenheit heraus wandte sich Ingeborg Lüscher unparteiisch dem Nahostkonflikt zu, zeigte wortlos Porträts von Männern und Frauen beider Bevölkerungsgruppen und liess sie nachdenken über Fragen wie «Wer bist du?», «Was hat jener von der anderen Seite dir angetan?», «Kannst du verzeihen?». Der Blick der Kamera auf die Gesichter reicht aus. Es braucht keine Worte.
Mittendrin in der Kunst
In den 1980er Jahren entdeckte Ingeborg Lüscher in einer Locarneser Apotheke das Material Schwefel, das sie wegen seiner Leuchtkraft, wegen seiner allgemeinen Beschaffenheit samt seinem Geruch zu einer ganzen Serie von Werken anregte – zu Kleinskulpturen mit meist kompakten weichen Formen, aber auch zu einer ganzen Folge von grossformatigen Malereien, in denen sie Schwefel anderen Materialien, zum Beispiel Asche, gegenüberstellte.
Schwefel wurde in jenen Jahren zu einem Markenzeichen Ingeborg Lüschers. Hier und auch anderswo zeigt sich, dass Ingeborg Lüscher in ihrer Kunst wohl Privatem Gestalt gibt, dass sie aber die vorherrschenden Kunstströmungen wach verfolgt und mit ihnen – sicher auch über Szeemann – in Verbindung bleibt. Da lässt sie, wie es zum Beispiel Kennzeichen der Arte Povera ist, den spezifischen Charakter verschiedener Materialien für sich sprechen. Sie machte sich formale Reduktion, wie wir ihr beim reifen Barnett Newman begegnen, zu eigen. Oder sie entwickelt ihre Arbeit nach strengen Konzepten. Sie ist keine Spezialistin, und sie nutzte und nutzt noch immer alle Medien, welche die Gegenwartskunst ihrer Kreativität zur Verfügung hält.
Ingeborg Lüscher (*1936) wächst in Sachsen auf. 1947 Übersiedlung nach Westberlin. Schauspielunterricht und Engagements an verschiedenen Theatern in Berlin und in Basel. 1959 Heirat mit dem Farbpsychologen Max Lüscher. Ab 1967 als Autodidaktin Hinwendung zur bildenden Kunst. Nach der Trennung von Lüscher ab 1972 Lebensgemeinschaft mit Harald Szeemann und Wohnsitz im Tessin. Beteiligung an der Documenta 5 in Kassel mit Fotografien aus dem Wald des Aussenseiter-Künstlers Armand Schulthess im Onsernonetal. Arbeit mit verschiedenen Medien wie Malerei, Skulptur, Video, Film, Fotografie, Konzeptkunst. Retrospektiven u.a. in Aarau, Trento, Solothurn, Wiesbaden. Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland. 2011 Prix Meret Oppenheim. Ingeborg Lüscher lebt in Tegna.
Museo d’arte Mendrisio, bis 19. Januar 2025, Publikation 30 Franken