In den letzten Wochen ist es Asad und seiner Armee gelungen, einige der strategisch wichtigen Restpositionen des syrischen Widerstandes zu liquidieren. Zuerst beendete er die langen, zähen und zerstörerischen Kämpfe um die Ost-Ghuta, das ländliche Gebiet, das dicht an Damaskus angrenzt und das sich seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges im Sommer 2011 in den Händen von mehreren Widerstandsgruppen befunden hatte.
In diesem Endkampf wurde wahrscheinlich wieder Giftgas eingesetzt. Der Kampf endete so wie früher an andern Orten: Die syrische Armee eroberte das Gebiet, während die verbleibenden Widerstandskämpfer mit ihren Familien und ihren leichten Waffen in den Norden Syriens evakuiert wurden. Sie gingen entweder in die Provinz Idlib oder etwas östlich davon in die Grenzgebiete der Provinz Aleppo, die seit dem August des vergangenen Jahres von der Türkei beherrscht werden.
Asad spart seine verlässlichsten Truppen
Diese Evakuierungen dienen dazu, Strassenkämpfe zu vermeiden, weil diese für die syrische Armee und ihre Hilfstruppen aus Libanon und aus Iran verlustreich wären. Die syrische Armee, deren verlässlichster Kern aus alawitischen Sondereinheiten besteht, hat nicht genügend Mannschaften, um das ganze Land zu beherrschen. Die Alawiten machen lediglich etwa 15 Prozent der Bevölkerung Syriens aus. Die hohen Verluste, die diese Minderheit im Verlauf der sechs Jahre des Bürgerkrieges auf sich nehmen musste, hatten gelegentlich dazu geführt, dass ein gewisses Murren in den Heimatdörfern der gefallenen alawitischen Jugendlichen entstand, wenn die Leichen der „Märtyrer“ dorthin zurückkehrten.
Die Führung der syrischen Armee ist darauf angewiesen, ihr Personal sparsam einzusetzen. Diese Notwendigkeit hat die Art der Kriegsführung in Syrien immer bestimmt: Kämpfe aus der Distanz mit Artillerie- und Bombeneinsätzen – ohne viel Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen. Dann, wenn die Zeit reif geworden war: die Abzugsverhandlungen.
Ende des Widerstands an der südlichen Peripherie von Damaskus
Die gleiche Methode wurde auch wieder in den Vorstädten und Dörfern südlich der Hauptstadt angewandt. Dort hatten sich im einstigen „Lager“ der Palästinenser, das Yarmuk genannt wurde und mit den Jahrzehnten zu einer eigenen palästinensischen Stadt herangewachsen war, ebenfalls Widerstandskämpfer gehalten. Ein Teil des Lagers und angrenzende Dörfer befanden sich in der Hand von Einheiten des IS. Ein anderer Teil wurde von HTS gehalten, der früheren Nusra-Front, die einst – aber heute als HTS nicht mehr – zu den Filialen von al-Kaida gehörte. Es gab auch weitere Gruppen von Widerstandskämpfern, eine jede in ihrem eigenen, engen Bereich.
Diese südlichen Reste des Widerstands erfuhren die Standardbehandlung: Artillerie, Bomben, wobei auch russische Kriegsflugzeuge mitwirkten, hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung, schliesslich Verhandlungen und Abzug nach Norden. Der IS verblieb und zeigt sich gewillt, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Noch leisten versprengte Gruppen seiner Anhänger im Süden von Damaskus weiteren Widerstand.
Die letzten Widerstandenklaven bei Homs und bei Hama
Dann ging die syrische Armee zur Liquidation der letzten Positionen der Kämpfer über, die sich in den Dörfern zwischen Homs und Hama und südlich von Hama gehalten hatten. Dies waren zwar kleine, aber ebenfalls strategisch wichtige Gebiete. Dies deshalb, weil sie nahe an der Hauptstrasse lagen, die Damaskus mit Aleppo verbindet. Immer wieder gelang es den Widerstandskämpfern, den Verkehr auf dieser Hauptachse zu blockieren. Auch dort ist es nun zu Verhandlungen gekommen, und die Evakuierung ist im Gang. Und auch da gibt es noch einzelne kleine Gruppen, die weiterkämpfen, weil sie die Abzugsbedingungen ablehnten.
Grössere Gruppen an der syrischen Südgrenze
Im Wesentlichen verbleiben dem Widerstand in Syrien Zonen an der südlichen und an der nördlichen Grenze. Im Süden lehnen sich diese an die israelisch besetzten Golanhöhen an, sowie an die jordanische Grenze. Ein Teil des Kommandos der südlichen Widerstandsgruppen, die man als die „gemässigten“ zu bezeichnen pflegt, befindet sich in Jordanien unter der Obhut amerikanischer und jordanischer „beratender“ Offiziere. Vor allem die amerikanischen Gelder, die aus Jordanien an diese südlichen Kämpfer flossen, sollen stark reduziert worden sein. Neben diesen „Gemässigten“ gibt es im Süden auch „radikale“ islamistische Kämpfer mit einem kleinen Gebiet unter dem Einfluss des IS.
Israel beobachtet das Geschehen im Süden genau. Das Hauptanliegen der Israeli ist zu vermeiden, dass sich iranische Kampfgruppen, die natürlich auf Seiten des Asad-Regimes stehen, im Grenzbereich zu den Golanhöhen und an der jordanischen Grenze festsetzen. Soweit es dort noch Widerstandsgruppen gibt, dienen sie den Israeli als eine vorgelagerte Verteidigung gegenüber den iranischen und pro-iranischen Kämpfern.
Ende der Offensive des südlichen Widerstands
Aus Jordanien ist Befehl an die „gemässigten“ Widerstandsgruppen ergangen, keinen Angriff mehr auf die syrische Armee zu starten. Offenbar glaubt die dortige Führung nicht mehr daran, dass solche Offensiven erfolgreich verlaufen könnten. Dies bewirkt ein vorläufig eher statisches Gesamtbild. Noch ist für die Armeeführung in Damaskus die Zeit nicht gekommen, um gegen die dortigen Restbestände des südlichen Widerstands offensiv vorzugehen.
Idlib Sammelbecken der Evakuierten
Die Provinz Idlib im Nordwesten, angelehnt an die Grenze zur türkischen Provinz von Antiochien („Hatay“ für die Türken), ist zum Sammelbecken des Widerstandes geworden. Die meisten der evakuierten Kämpfer aus den anderen Landesteilen zogen dorthin. Schätzungen sprechen von 2,3 Millionen Menschen, die sich in Idlib angesammelt hätten – die ursprünglichen 1,5 Millionen Bewohner der Idlib-Provinz mitgerechnet.
Bis zum vergangenen Oktober gab HTS (die frühere Nusra-Front) als die stärkste der Widerstandsgruppen in Idlib den Ton an, doch andere, Islamisten und säkulare Kampfgruppen, suchten sich gegenüber HTS zu halten, was manchmal zu inneren Kämpfen führte.
Im vergangenen Oktober zogen die Türken in Idlib ein, wobei sie ihrer Hilfstruppen, die sie aus der syrischen FSA (Freie Syrische Armee) rekrutiert und bewaffnet hatten, als Vorhut einsetzten. Praktisch kampflos haben die türkischen und pro-türkischen Truppen die Provinz unter ihren Einfluss gebracht. Idlib ist wirtschaftlich von der Türkei abhängig. Die überfüllte Provinz, die von ihren syrischen Nachbargebieten abgeschnitten ist, muss sich von Lebensmitteln ernähren, die über die türkische Grenze kommen. Die Bewohner von Idlib sagen, wer eine Arbeitsstelle wolle, müsse sich an die türkischen Militärbehörden wenden, nur sie hätten Arbeit zu vergeben. Manche fügen hinzu, es empfehle sich, die Türken und ihre Helfer nicht zu kritisieren.
Die Türkei handelt mit russischer Zustimmung
Russland untrerstützt das türkische Vorgehen in Idlib. Die türkischen und pro-türkischen Einheiten stehen im Rahmen der De-Eskalationsabkommen in Idlib, die in Astana beschlossen worden waren. Regionen und Ortschaften, die weiterhin von HTS und andern islamistischen Gruppen dominiert werden, werden immer wieder von syrischen oder russischen Kampfflugzeugen bombardiert. Doch die Bewohner von Idlib wissen, dass die grosse Abrechnung mit Damaskus erst noch bevorsteht – und davor fürchten sie sich. Dies mag mit ein Grund dafür sein, dass die Präsenz der Türkei willig und praktisch widerstandslos hingenommen wurde.
Nördlich von Idlib liegt die überwiegend von Kurden bewohnte Region von Afrin, die östlich und südlich an die Türkei angrenzt. Afrin gehört zur Provinz von Aleppo. Die gesamte Region wurde von türkischen und pro-türkischen Soldaten nach zwei Monaten Kämpfe am vergangenen 18. März eingenommen. Die kurdischen YPG-Kämpfer und viele ihrer Angehörigen und Sympathisanten flohen. Die Zahl der geflohenen oder Vertriebenen wird auf 150’000 bis 200’000 geschätzt. In die leerstehenden Häuser der Flüchtlinge sind inzwischen evakuierte Widerstandskämpfer mit ihren Familien unter Mithilfe der SFA-Truppen eingezogen.
Eine Art von ethnischer Säuberung spielt sich ab. Erdogan hat mehrmals erklärt, die Millionen syrischer Flüchtlinge, die sich zurzeit in der Türkei befinden, sollten künftig in dem von pro-türkischen und türkischen Kräften besetzten nördlichen Teilen Syriens untergebracht werden. Dies würde die ethnische Säuberung dieser Gebiete weiter vorantreiben, weil die Flüchtlinge Araber sind, nicht Kurden.
Ein türkisches Herrschaftsgebiet in Nordsyrien
Die östlich an Afrin angrenzenden Zonen befinden sich seit längerer Zeit im Besitz der Türken und ihrer syrischen Hilfstruppen von der FSA. Sie wurden im August des vergangenen Jahres besetzt. Präsident Erdogan sprach wiederholt davon, dass die Türken auch das letzte Gebiet zwischen dem Euphrat und Afrin einnehmen wollen, nämlich die Stadt Membidsch und ihre Umgebung, die sich in Händen der aus Kurden und Arabern zusammengesetzten SDF (Syrian Democratic Forces) befindet. Die dortigen SDF-Truppen werden ihrerseits von der amerikanischen Koalition in ihrem Kampf gegen den IS unterstützt. In den SDF dominieren die Kurden der YPG, die in Afar, wo sie ohne amerikanische Unterstützung kämpfen mussten, den Krieg gegen die türkischen Invasoren verloren haben. Die Türken setzten in Afar mit russischer Duldung ihre Luftwaffe ein.
Der türkische Angriff auf Membidsch blieb bisher aus
Bisher hat Erdogan seine Aussagen, dass die Türkei auch Membidsch einnehmen werde, koste es, was es wolle, nicht zu verwirklichen versucht. Der Hauptgrund dafür dürfte der Umstand sein, dass in Membidsch amerikanische Berater und Sondertruppen stehen und dass die amerikanische Luftwaffe die SDF-Kräfte unterstützt, welche die Stadt und ihre Umgebung halten. Verbal ist Erdogan oft mit den Amerikanern über die Kurdenfrage zusammengestossen, doch kriegerische Zusammenstösse vermied er bis jetzt.
Kurdische Autonomiegebiete
Jenseits des Euphrats, im Osten Syriens, liegt ein weites Gebiet, das sich gegenwärtig in Händen der SDF und damit auch der kurdischen YPG befindet. Diese Zone ist in den nördlichen Teilen, direkt an der langen türkischen Südgrenze, in kurdischer Hand und steht unter kurdischer Selbstverwaltung, die von Ankara als ein Ableger der „terroristischen“ PKK angesehen wird.
Weiter im Süden wird das Gebiet östlich des Euphrats von Arabern bewohnt, unter denen sich auch arabische Christen befinden. Es wurde im vergangenen Herbst von den SDF mit amerikanischer Hilfe von den IS- Besetzern bis hinab an die irakische Grenze befreit. Die Hauptstadt des IS, Raqqa, wurde dabei weitgehend zerstört. Diese südlichen Gebiete (blau auf der untenstehenden Karte) sind von Arabern bewohnt und unterstehen zur Zeit einer militärischen Verwaltung durch die SDF. Ihre territoriale Zugehörigkeit ist unbestimmt.
Östlich des Euphrats die SDF und die USA
Heute bildet der Euphrat die Grenze zwischen den westlichen Territorien, die von der Asad-Armee beherrscht werden, und dem östlichen Bereich der unter der Herrschaft der SDF steht. Der östliche Bereich wird von der amerikanischen Luftwaffe sowie von amerikanischen „Beratern“ unterstützt. Die Gesamtzahl der Amerikaner am Boden soll gegen 2000 Mann ausmachen. Die Westseite des Euphrats ist von der syrischen Armee in Besitz genommen worden, mit Ausnahme des breiten Gürtels an der Nordgrenze Syriens. Dort dominieren östlich des Euphrats die Kurden der YPG und westlich des Strom die Türken.
Die von den Amerikanern unterstützten Kurden der YPG kontrollieren ein Gebiet, das fast ein Drittel des syrischen Territoriums ausmacht. Es ist weitgehend Wüstengebiet, jedoch auch dieses ist von Bedeutung, weil dort die wichtigsten syrischen Erdölvorkommen liegen. Unterstützt werden die Kurden von arabischen Kräften, zu denen auch der SDF gehört.
Zwei Vorstossversuche der Armee von Damaskus
Zweimal haben die syrischen Truppen versucht, jenseits des Euphrats auf das Ostufer vorzudringen. Das erste Mal am 7. Februar in einer Nachtaktion, an welcher russische Söldner beteiligt waren. Der Angriff zielte auf ein wichtiges Ölfeld, das nicht sehr weit entfernt vom Euphrat liegt. Doch die amerikanische Luftwaffe griff ein und schlug die Angreifer unter schweren Verlusten zurück. Gegen hundert Söldner sollen laut inoffiziellen Berichten ihr Leben verloren haben. Die Amerikaner begründeten ihr Vorgehen damit, dass sich unter den angegriffenen SDF-Truppen östlich des Stroms auch amerikanische Berater befanden. Die Russen nahmen den Schlag gegen ihre Söldner hin, ohne ihrerseits kriegerisch zu reagieren.
Das zweite Mal stiessen syrische Truppen am 19. April nahe der Stadt Deir az-Zor über den Euphrat vor und eroberten fünf Dörfer, die von SDF-Truppen gehalten worden waren. Diese erklärten den Rückschlag damit, dass viele ihrer Einheiten in die Kämpfe gegen die Türken um Afrin verwickelt waren. Später gingen die SDF-Truppen zu einer Gegenoffensive über und schlugen die syrischen Truppen zurück. Dabei halfen ihnen amerikanische Kampfflugzeuge. Dies war insofern ein ausserordentlicher Schritt, weil die Amerikaner offiziell den SDF in ihrem Kampf gegen den IS helfen. Angriffe auf die Asad-Armee, die von den Russen aus der Luft unterstützt wird, wollen die Amerikaner vermeiden. Die Russen protestierten, setzten aber ihre Luftwaffe nicht ein.
Die Bedeutung der amerikanischen Luftwaffe
Unklar ist, ob die Amerikaner gedenken, ihre Aktionen in Syrien im Zeichen des „Sieges“ über den IS schon bald abzubrechen, wie es Trump mehrmals erklärt hat. Oder ob sie vorläufig und auf unbestimmte Zeit als Stützen der SDF in den weiten Gebieten östlich des Euphrats bleiben wollen, wie mehrere hohe Offiziere der amerikanischen Aktion „Inherent Resolve“ versprachen. Auch hohe Beamte des Pentagons und der inzwischen entlassene Aussenminister Rex Tillerson setzten sich für ein Bleiben ein. Für Damaskus und Moskau ist die Präsenz der Amerikaner in Syrien „illegal“. Im benachbarten Irak wurde „Inherent Resolve“ in einer offiziellen Zeremonie als abgeschlossen erklärt. Doch amerikanische Truppen bleiben im Irak als Ausbilder und Berater der irakischen Streitkräfte.
Für die Zukunft der SDF und damit auch der kurdischen YPG wird entscheidend sein, ob die amerikanische Luftwaffe weiterhin mit den SDF zusammenarbeitet. Tut sie dies nicht, geraten die SDF und mit ihnen die kurdischen YPG in eine fast aussichtslose Lage. Die SDF verfügen über keine eigene Luftwaffe und wären bei einem Abzug der Amerikaner den syrischen, türkischen und russischen Kampfflugzeugen ausgesetzt. Ein solch ungleicher Kampf würde wohl mit der Niederlage der SDF und der kurdischen YPG enden.