Offiziell gilt weiter, dass die amerikanischen Truppen endgültig am Ende dieses Jahres abgezogen sein werden, es sei denn der Irak schliesse einen neuen Vertrag über die Verlängerung ihrer Präsenz ab. Der Abzug ist sowohl von Obama versprochen wie auch vertraglich mit der irakischen Regierung festgelegt. Wenn Obama auf ihn zurückkäme, würde er von der amerikanischen Linken wegen Bruchs seiner Wahlversprechen und von der amerikanischen Rechten wegen weiteren finanziellen Belastungen kritisiert.
Absicherung der amerikanischen "Gewinne"?
Doch die Leute des Pentagon und wohl auch der CIA (deren bisheriger Chef Panetta war) sind offensichtlich der Ansicht, der Irak benötige weiter amerikanische Soldaten - nicht notwendigerweise Kampftruppen (diese sind bereits offiziell abgezogen), jedoch Ausbilder für die im Aufbau begriffene irakische Armee und vielleicht auch Truppen zur Rückenstärkung des demokratischen Regimes von Nuri al-Maleki, für den Fall dass etwas fundamental schief gehen sollte.
Die beiden Verantwortlichen sagten, es gehe darum, die teuer errungenen "Gewinne" der Amerikaner im Irak nicht zu gefährden.
Maleki schweigt diplomatisch
Auf der irakischen Seite gab es kein offizielles Echo auf diese Aussagen. Für die Maleki-Regierung und wohl auch für beinahe alle Politiker, die bei der irakischen Demokratie mitwirken, handelt es sich um eine sehr heikle Frage. Es besteht wenig Zweifel, dass die irakische Bevölkerung in ihrer immensen Mehrheit den Abzug der Besetzungstruppen will und erwartet.
Doch die Verantwortlichen wissen, wie ungewiss die Stabilität des neuen Regimes ist. Nicht alle, aber manche dürften sich heimlich fragen, ob es für sie und ihr Land nicht besser wäre, die amerikanische Rückversicherung beizubehalten. Doch dies offen zu sagen, wäre sehr unpopulär und auch ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit.
Muqtada as-Sadr Vorkämpfer des Abzugs
Das Umgekehrte laut zu hinauszuposaunen, nämlich alle Amerikaner müssten sofort abziehen, ist beliebt und bringt Wählerstimmen. Der schiitische Radikale Muqtada as-Sadr weiss dies genau und profitiert von seiner scharf anti-amerikanischen Haltung. Seine radikale, schiitische Partei hat in den Wahlen von März 2010 gut abgeschnitten, und sie bildet heute einen Teil der Regierungskoalition, ohne den die Regierung zu Fall kommen müsste.
Muqtada as-Sadr hat gedroht, er würde sich aus der Regierung zurückziehen, wenn diese sich nicht an den heute geltenden Vertrag über den Abzug der Amerikaner bis Ende 2011 halte. Er hat auch angedeutet, in diesem Fall könnte er seine Miliz, die Mehdi-Armee, neu mobilisieren. Dort militieren die begeisterten Anhänger des schiitischen Politikers, die meist aus den Unterschichten der schiitischen Bevölkerungsmehrheit stammen.
In Bagdad selbst gibt es gewaltige Hüttenstädte, wo Millionen von ihnen leben, und die südliche Provinz Muthanna wird gegenwärtig gänzlich von ihnen dominiert.
Im Mai dieses Jahres marschierten zwischen 70‘000 und 100‘000 Anhänger as-Sadrs nach Bagdad . Sie waren in Uniformen gekleidet aber ohne Waffen und verlangten die Einhaltung des Vertrags über den Abzug der Amerikaner. Natürlich drängen auch die ausserhalb des Regimes stehenden Kräfte, die immer noch verlustreiche Terroranschläge durchführen, auf den Abzug der Amerikaner, denn er würde ihre Chancen, in Teilen des Landes "befreite Zonen" zu schaffen und so Druck auf die Bagdader Regierung auszuüben, ohne Zweifel verstärken.
Auf der andern Seite stehen die Kurden. Sie haben offen erklärt, dass sie eine fortdauernde Präsenz der Amerikaner begrüssen würden. Der Grund ist klar: sie fürchten, ohne die Amerikaner, könnte Bagdad, wie schon so oft in früheren Jahren, versuchen, die kurdischen Berge (und die umstrittene Ölstadt Kirkuk) mit militärischer Macht zu unterwerfen.
**Eine Entscheidung gefordert **
Was Ministerpräsident Maleki selbst denkt, sagt er nicht offen. Doch die Amerikaner drängen darauf, dass er sich zu einer Stellungnahme entschliesse. Sie erklären, der Abzug der Amerikaner mit all ihrem Material würde Monate in Anspruch nehmen und müsste jetzt in die Wege geleitet werden, wenn er bis Ende Jahr reibungslos durchgeführt werden soll.
Die Regierung als Provisorium
Es wäre nicht unwahrscheinlich, dass der Irak Malekis in eine scharfe Krise einträte, wenn die Amerikaner gänzlich abzögen und das Land, das sie weitgehend zerstört haben, seinem Geschick überliessen. Zuvor hatte schon Saddam Hussein viel zu seinem Niedergang beigetragen.
Die Regierungsbildung unter Maleki, die mit Ach und Krach nach den Wahlen vom März 2010 endlich im Dezember letzten Jahres zustande kam, ist legal gesehen immer noch nicht abgeschlossen. Maleki, der Ministerpräsident, verwaltet noch immer selbst "vorläufig" die für die Machtausübung zentralen Ministerien des Inneren, der Sicherheit und der Verteidigung. Weil, wie es heisst, noch immer keine allen Parteien der Koalition genehme, "neutrale" Minister für sie gefunden werden konnten. Dies gibt Maleki beinahe diktatorische Vollmachten. Es bedeutet aber auch, dass die Minister der Koalitionsregierung stark davon in Anspruch genommen werden, Ränke zu schmieden und Intrigen ihrer Rivalen abzuwehren, bei denen es darum geht, wer die theoretisch nur vorläufig bestellten, entscheidenden Sicherheitspositionen endgültig zugesprochen erhält.
Die Bevölkerung murrt
Angesichts des arabischen Frühlings hat auch die irakische Bevölkerung am 24. Februar dieses Jahres zu demonstrieren begonnen. Ihre Proteste betrafen bisher nicht die Regierung. Sie forderten endlich eine brauchbare Elektrizitätsversorgung, Bekämpfung der allgegenwärtigen Korruption, Aufbau der zerstörten Infrastrukturen, und sie warfen den Ministern vor, sich zu sehr um ihre eigenen Positionen und Bereicherungsmöglichkeiten und nicht genug um die Belange der Bevölkerung zu kümmern.
Nachdem es am 26. April die ersten Todesopfer unter den Demonstranten gegeben hatte, reagierte Maleki, indem er den Demonstranten versprach, in den nächsten 100 Tagen, werde sich alles entscheidend bessern. Alle Minister, deren Ministerien keine entscheidenden Fortschritte aufzeigen könnten, würden entlassen. Die 100 Tage sind am 7. Juni vergangen.
Da es wenig echte Fortschritte gab, redeten die Ministerien sich heraus, indem sie erklärten, sie hätten die 100 Tage benützt, um Pläne aufzustellen, wie den Missständen abgeholfen werden solle. Minister wurden keine entlassen. Maleki kann sie auch nicht entlassen, ohne seine Koalition zu gefährden. Die Demonstrationen der Unzufriedenen setzten neu ein, und Maleki ging dazu über, seine Anhänger mit Knüppeln auf die Demonstranten loszulassen. Sie haben mit Gewalt den Tahrirplatz von Bagdad geräumt, wo sich die Demonstranten, nach dem Vorbild von Kairo, niedergelassen hatten. Da es nur kleine Mengen waren, hatten die Schläger der Regierung leichtes Spiel. Sie besetzen gegenwärtig den Befreiungsplatz.
Wenn jetzt die Regierung nach einer Verlängerung der amerikanischen Besetzung riefe, würde sie sehr viel Öl in das bereits schwelende Feuer schütten.