»Mit Fußball werdet ihr dem Himmel näher sein als mit dem Studium der Bhagavad Gita.« Swami Vivekananda hatte gewusst, wie schockiert seine Zuhörer im Jahr 1897 sein würden, als er ihnen empfahl, den fremden Sport der berühmtesten heiligen Schrift der Hindus vorzuziehen. Aber er war überzeugt: Wollte der Hinduismus gegen die christlichen Kolonialherren bestehen, musste er sich abwenden von zu viel weltentrückter Mystik. Es bedurfte vielmehr starker Worte und starker Männer: »Mit eurem Bizeps werdet ihr die Gita besser verstehen. [...] Ihr werdet das Atman stärker spüren, wenn euer Körper auf festen Füßen steht und wenn ihr euch als Männer spürt.«
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Der »muskulöse Mönch« war mit seinem Männlichkeitskult ein Kind seiner Zeit. Die Kolonialherren beherrschten ihren südasiatischen Besitz nicht nur mit militärischem Zwang und technischer Disziplin. Sie sicherten ihn auch mit einer Ideologie rassischer Überlegenheit, die den mannhaften weißen Kolonialherrn als natürliches Herrschaftssymbol feierte. Im Gegenzug stempelte sie den Inder als weich, effeminiert, folgsam und passiv ab. Lord Macaulay artikulierte es so: Verglichen mit den »mutigen und energischen Kindern Europas« kann der Bengale nur »schlaff handeln. Körperlich ist er schwach bis zum Weibischen.«
Diese diffamierende Ideologie wirkte wie ein Stachel unter den hochkastigen Eliten Kalkuttas und provozierte im 19. Jahrhundert eine erste kollektive Selbstbesinnung. Im Gegenentwurf der Reformbewegung Brahmo Samaj lehnten die Bengalen dann allerdings nicht den starken männlichen Körper als Kraftsymbol ab. Sie setzten im Gegenteil dem europäischen Prototypen einen indischen entgegen, den sie in der Kriegerkaste der Kshatriyas ausmachten. Auch wir haben unsere Alphatiere, schienen sie zu sagen, sie sind den englischen ebenbürtig. Der Brahmo Samaj internalisierte gewissermaßen die Argumente der Kolonialherren: Wir Inder sind zwar weltabgewandt, spirituell, resignierend und weich, wir müssen diese geistige Seite aber nicht ablegen, wir müssen sie nur physisch absichern, um dem Westen ebenbürtig zu sein.
Swami Vivekananda war in diesem Klima groß geworden, und der Körperkult war für ihn Teil dieses Reformprozesses. Mit ihm würde Indien dem Westen nicht nur im Bereich der Spiritualität die Stirn bieten, sondern auch bei der politischen Selbstbehauptung. Je körperbetonter die Sportarten, desto besser diese psychophysische Fitness. Nicht Cricket, dieser süffisante Zeitvertreib der englischen Aristokratie, war die erste Liebe, schweißtreibende Sportarten mussten her: Ringen, Boxen, Rugby – und Fußball.
Bereits um 1900 hatten die lokalen Bewohner allein in Kalkutta drei Fußballklubs gegründet, angefangen bei Mohun Bagan FC 1888, dem ältesten Fußballverein Asiens. Ihnen stand eine Unzahl britischer Klubs gegenüber. Jedes Regiment unterhielt ein Fußballteam, jede Handels- und Industriefirma führte eins. Fußball, der Briten männlichster Sport, war für sie der adäquate Ausdruck ihrer Überlegenheit. Dann geschah 1911 das Unbegreifliche. Im Finale der IFA Shield, der viertältesten Fußballmeisterschaft der Welt, besiegte Mohun Bagan die Elf des East Yorkshire Regiment mit 2 : 1 – und zwar barfuß. Das Resultat wurde als erster nationaler Sieg über den kolonialen Overlord gefeiert.
Aber es sollten ein anderes Männlichkeitsbild und eine andere Ideologie sein, die 36 Jahre später den endgültigen Sieg über die Kolonialherrschaft brachten. Anstelle des muskulösen Mönchs mit Turban und wehender Robe war der ikonische Sieger ein schmalbrüstiger, ausgemergelter und »halbnackter Winkeladvokat«, wie Churchill Mahatma Gandhi höhnisch nannte. Und statt des kriegerischen Kshatriya hatte Gandhi seinem Land einen anderen Siegertyp verpasst. Entscheidend war nicht die physische Kraft des Boxers und Ringers, der den Gegner zu Boden warf. Es war vielmehr der passive Widerstand gewaltlosen Protests, der die militärische Überlegenheit der Briten aushebelte.
Gandhi wollte beweisen, dass die Fähigkeit, Gewalt zu erdulden, die größere (und schließlich erfolgreichere) Leistung darstellt, als Gewalt anzuwenden. Statt an die Kshatriya-Tradition anzuknüpfen, appellierte er an die spirituelle Kraft eines Asketen. Auch sie war ein urindisches Ideal und bot, so Gandhis Überzeugung, dem indischen Volk eine größere Projektionsfläche zur nationalen Selbstidentität als die hochkastige Kriegerattitüde.
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Indiens Fußball hat überlebt, viel mehr aber nicht. Er sah sich buchstäblich an den Rand gedrängt. Nur an Indiens Peripherie – in Kerala, Goa, Bengalen und den Bundesstaaten im Nordosten – wird Profifußball gespielt. Indien rangiert in der FIFA-Rangliste auf Platz 170, hinter Monserrat mit seinen 5000 Einwohnern. Es hat noch nie an einer WM teilgenommen. (…)
Ein Wandel liegt dennoch in der Luft, und gerade die FIFA hat ihn wahrgenommen und fördert ihn. Indien »ist der schlafende Gigant des Weltfußballs«, ließ FIFA-Präsident Sepp Blatter 2012 verlauten. Der schlaue Walliser ließ seiner Feststellung gleich Taten folgen. Indien wurde zum Austragungsort für die nächste Junioren-WM der U-20 im Jahr 2017 bestimmt. Dies bedeutet, dass viele FIFA-Gelder in die Infrastruktur von Stadien und Ausbildungsstätten für Trainer, Schiedsrichter sowie Spieler fließen werden.
2012 lancierte der Verband das Project Grassroots und wählte für dessen Start die Stadt Aizawal. Die Hauptstadt des Bundesstaats Mizoram ist selbst für viele Inder nur schwer zu lokalisieren. Sie liegt im äußersten Nordosten des Landes zwischen Bangladesch und Myanmar. Die FIFA hatte bei der Selektion ihre Hausaufgaben gemacht. Trotz seiner nur 850000 Einwohner verfügt Mizoram über 200 Fußballklubs.
Fußball ist so etwas wie der Nationalsport der Mizos. Es gibt in dieser Hügelregion zwar keine natürlichen Flachgebiete, dennoch besitzt jedes Dorf einen ordentlichen Fußballplatz. Eines der drei Stadien von Aizawal fasst 25 000 Zuschauer. Früher waren Kirchen das soziale Bindemittel der Mizos, nachdem ihnen britische Missionare und Administratoren die alten Bräuche ausgetrieben hatten. Heute sind Fußballklubs die institutionellen Plattformen des sozialen Austauschs.
Fußball ist gemeinschaftsstiftend, auch gegenüber dem großen Bruder Indien, zu dem sie zwar gehören, der aber sehr weit weg ist. So kann es nicht schaden, sich bei ihm ab und zu in Erinnerung zu bringen. Im Frühjahr 2014 gewann die Mizo-Nationalmannschaft die Santosh Trophy, die inoffizielle indische Fußballmeisterschaft. Ganz Mizoram war in einem Freudentaumel. Beim Festakt im Stadion von Aizawal rief der Kapitän des Teams in die Menge: »Wir alle wissen, wie groß Indien ist. Wir wissen, wie viele Menschen dort leben. Und wir wissen, wie klein und entlegen unser Staat ist, wie wenige wir sind. Aber: Wir sind die Champions! Wir sind die Champions!« Und wieder stimmte die Menge in den Teamsong ein: »Lalpa’n til ropui nun tihsuk e« – »Der Herr hat Großes für uns getan.«
Was für Mizoram gilt, ist auch für das benachbarte Manipur wahr. Beide Staaten haben einen langen Sezessionskrieg gegen den indischen Zentralstaat ausgefochten. Mizoram hat seinen vergeblichen Unabhängigkeitskampf vor bald 30 Jahren aufgegeben, in Manipur aber schwelt er weiter. Auf seine 2,5 Millionen Einwohner kommen 27 Untergrundorganisationen. Die Arbeitslosigkeit umfasst ein Viertel der Bevölkerung. Die Nähe zum burmesischen Goldenen Dreieck macht es zum Transitland und Großkonsumenten von Drogen. Kein anderer Bundesstaat hat derart viele HIV-infizierte Personen – acht Prozent aller AIDS-Fälle Indiens, bei nur 0,2 Prozent Bevölkerungsanteil.
Auch in Manipur bietet der Sport neben matriarchalischen Traditionen das wichtigste institutionelle Gerüst, das die Gesellschaft noch zusammenhält. Es besitzt mit 269 Fußballklubs noch mehr als Mizoram. Es führt zwei Meisterschaften durch, eine für Männer und eine für Frauen. In 20 landesweiten Meisterschaften waren die Frauen aus Manipur nicht weniger als 17-mal die Champions. Und im Unterschied zu Mizoram gibt nicht nur der Fußball den Manipuris eine Identität und eine landesweit gehörte Stimme. Es gibt auch ein Frauen-Feldhockey-Team, das die nationale Meisterschaft gewonnen hat.
Die berühmteste Manipuri-Frau aber ist Mary Kom, eine Boxerin. Bei den Olympischen Spielen in London gewann sie in ihrer Kategorie die Bronzemedaille. Seither gilt sie auch im »fernen« Indien als Nationalheldin. Beim Kampf um den Einzug ins Finale litten so viele Fernsehzuschauer mit, dass die Zeitungen am Tag nach ihrer Punkte-Niederlage ihren Lesern Nationaltrauer verordneten. Mary Kom ist fünffache Weltmeisterin. Im September 2014 trat Kom – kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes – ein weiteres Mal an, bei den Asiatischen Spielen in Südkorea. Erneut gewann die 31-Jährige Gold im Fliegengewicht.
Mary Kom ist die erste Sportlerin des Landes, über die ein Bollywoodfilm gedreht wurde, so etwas wie der Nobelpreis für eine nationale Ikone. Sie entspricht genau dem Bild, das sich Swami Vivekananda von einem robusten Hindu erhofft hatte: aggressiv, hart im Nehmen. Ungewöhnlich ist, dass dieses Vorbild eine Frau ist, eine Christin, die aus einem wenig bekannten, winzigen Bundesstaat stammt. Zur Zeit Vivekanandas waren alle Inder unterjocht. Aber es waren hochkastige Männer aus den Städten, die als Leitbilder zu ihrer Befreiung dienten. Heute dagegen sind es meist Frauen, Minderheiten und marginalisierte Regionen, die sich von den patriarchalischen, zentralistischen und religionspolitischen Fesseln befreien wollen. Mary Kom ist keine gandhische Ikone, sondern eine nach dem Gusto Vivekanandas.
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In einem demokratischen Land wie Indien sind die Politiker hellhörig, wenn es um Publikumstrends geht. Niemand hat dafür ein feineres Gespür als der neue Premierminister Narendra Modi. Im Wahlkampf gab er über Facebook und Twitter auch seine Körperwerte durch, und sie hatten sich sofort millionenfach verbreitet: Brustumfang: 56 Inches. Das war ein Ulk mit strategischer Bedeutung, genauso wie sein kurzärmliges Hemd, das immer so knapp geschneidert war, dass sich darunter die Brust spannte. Wenn Modi etwas von seinem Gujerat-Landsmann Mahatma Gandhi übernommen hat, dann sind das nicht Wahrheitssuche und Gewaltlosigkeit, es ist auch nicht der asketische Körper, sondern das Kalkül mit ikonischen Gesten.
Gandhis Spiel mit Kleidersymbolen ist auch ihm hochwillkommen, den Inhalt jedoch, die stolzerfüllte, kräftige Brust, holt sich Modi bei seinem Helden Swami Vivekananda: Bizeps und Bhagavad Gita. Abwechselnd Landesvater und Volkstribun, inszeniert er sich als Symbolträger eines selbstbewussten und starken Landes, genauso wie Gandhi früher an die Tradition des leidensfähigen Asketen angeknüpft hat. Die Sportszene gibt Modi recht: Die neuen Ikonen Indiens sind Boxerinnen und Ringerinnen, nicht Marathonläufer.
Einige Termine für Lesungen aus dem Buch ‚Indien. Ein Länderporträt’:
7.Juni So., 12 Uhr
Staatliches Museum Schwerin
Alter Garten
19055 Schwerin
Tel. 0385-5958119
www.museum-schwerin.de
8.Juni Mo, 19 Uhr
German-Indian Roundtable
c/o Rödl&Partner
Strasse des 17.Juni, 106
0623 Berlin
9.Juni, Di, 20 Uhr
Buchhandlung Schropp
Hardenbergstr.90
10623 Berlin
www.schropp.de
15.Juni, Mo, 19 Uhr
Deutsch-Indische Gesellschaft
Silberburgstr.74
70176 Stuttgart
www.digstuttgart.de
5.Juli, So, 11 Uhr
Rietberg-Museum
Zürich
www.rietberg.ch/de-ch/agenda
25. August, Di, 19 Uhr
Buchhandlung Thalia-Stauffacher
Neuengasse 25-27
3001 Bern