«War da was?», fragen sich viele. Ein Lehrermangel? Eine Notsituation? Die Bildungsverantwortlichen tun so, als wäre nichts gewesen – und flüchten in Visionen. Da staunen manche erzürnt.
Seit Jahren das ewig gleiche Bild: kurz vor den Sommerferien aufgescheuchte Schulleitungen und eine aufgeregte Suche nach Lehrpersonen. Aus den Stäben nichts als lautes Schweigen. Die Verantwortlichen vor Ort dagegen kämpfen um jede verfügbare Hilfskraft. Die Schulen müssen nach den Ferien starten können, die Kinder eine Lehrerin vor sich haben. Mit enormem Aufwand gelingt es. Eingestellt werden auch Leute ohne Ausbildung. Die Bildungsfunktionäre nehmen’s gelassen zu Kenntnis. Die Karawane zieht weiter.
Wo bleibt der Blick aufs Konkrete?
Warum dieses Zittern immer wieder? Warum dieses Trauerspiel? Man kann nur spekulieren und deuten – und sich fragen: Interessiert sich die Bildungspolitik überhaupt für die Qualität unserer Schulen und den konkreten Unterricht vor Ort? Wer ins NZZ-Podium zum Thema «Leistungsgesellschaft – welche Schule braucht der Mensch?» von Mitte September hineingehorcht hat, der zweifelt ernsthaft.[1] Der Diskussionsverlauf spricht Bände: Da war viel von Visionen die Rede und davon, die Potenziale der Kinder besser und humaner zur Entfaltung zu bringen, und da wurden vor allem noch mehr Finanzmittel gefordert – dies im ohnehin schon teuersten Bildungssystem der Welt.
Die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner gab zu Protokoll: «Das Schweizer Schulsystem ist grundsätzlich auf einem sehr guten Weg. Wir haben ein riesiges Stütz- und Fördersystem, wir haben die Instrumente zu korrigieren.» Kein (selbst-)kritisches Wort, kein Kommentar zu den Sorgen und Nöten im pädagogischen Parterre, kein Querblick auf die Defizite der Schule und die Tatsache beispielsweise, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Wenn sie diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Lerninstitute dahinter – und leider viel zu wenig lernwirksame Unterrichtsstunden. Im Übrigen erhalten heute rund 35 Prozent der Schüler Nachhilfeunterricht. Was das für die angeblich so wichtige Chancengerechtigkeit bedeutet, ist selbstredend.
Skandal einer Bildungspolitik, die den Alltag negiert
Kein Wort auch von den Folgen der Integration ganz unterschiedlicher, zum Teil sehr schwieriger Kinder in die gleiche Klasse – mit dem administrativ horrenden Koordinationsaufwand und den teilweise gravierenden Unterrichtsstörungen. Der «Beobachter» spricht gar vom «Towubahohu im Klassenzimmer» und davon, dass es heute selten mehr eine Klasse gäbe, «in der man sich auf die Vermittlung des Schulstoffs konzentrieren kann».[2] Doch wen überrascht das, wenn die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner die Integration im Sinne eines Menschenrechts als gegeben annimmt. Steiner wörtlich: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.»[3] Da verbietet sich aus ideologischen Gründen jedes Justieren und jedes Korrigieren. Da gibt’s aus dogmatischen Gründen nur eines: weiter wie bisher! Kollateralschäden hin, gravierende Lerndefizite in den kulturellen Basiskompetenzen her.
Und diese Unterrichtsform ist mit ein Grund für die spürbare Flucht vieler Lehrpersonen aus dem Schulzimmer. Auch darüber sehen die Verantwortlichen geflissentlich hinweg. Ihre Devise: nichts hören, nichts sehen und auch nichts sagen – das ist der Skandal einer Bildungspolitik, die sich in Visionen flüchtet und den Alltag negiert und dabei so tut, als ob alles in Ordnung sei – wie seit Jahren beispielsweise beim Frühfranzösisch.
Bei gewissen Defiziten liegt ein Systemversagen vor
Was bräuchte es denn? Viele vermissen in der Schweizer Bildungspolitik eine kritisch-analytische (Klar-)Sicht auf den Ist-Zustand, und zwar eine systemische und radikal-ehrliche. Während Jahren wurde die Schule umgebaut und reformiert – in Hunderten von Einzelschritten. Was haben die Innovationen denn insgesamt gebracht? Und warum rutscht die Schweiz in den internationalen Vergleichsstudien trotzdem dauernd ab?
Es darf, um ein einziges Beispiel zu nennen, doch nicht sein, dass jeder Fünfte unserer 15-Jährigen die Schule ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse verlässt. Das sei schlicht «ein Systemversagen», wie es Stefan C. Wolter, der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, auf den Punkt bringt. Er fügt bei: «Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern können in der Schweiz bei Schulabschluss zwei bis drei Schüler pro Klasse nur unzureichend schreiben und lesen.» Die Bildungsverantwortlichen schweigen. Das Systemversagen scheint sie nicht zu stören. Nach den Gründen fragt kaum jemand.
Der kritische Blick auf die Pädagogischen Hochschulen
Ein zweiter wichtige Blickpunkt gälte der Frage, wo in der Ausbildung Fehler gemacht werden und warum so viele junge Lehrpersonen das Schulzimmer so schnell wieder verlassen: sieben Prozent pro Jahr, am meisten in den ersten drei bis fünf Berufsjahren. Wir haben, und das wissen wir, nicht zu wenig ausgebildete Lehrpersonen, wir haben zu viele, die den Beruf zu schnell wieder an den Nagel hängen oder ihn nicht einmal aufnehmen. Die Pädagogischen Hochschulen sind eine Art Durchlauferhitzer geworden für Leute, die gar nicht unterrichten wollen. Dazu gehört die Frage: Wie genügend für einen guten Unterricht vorbereitet sind die neuen Lehrerinnen und Lehrer, und wie gezielt eingeübt beginnen sie ihre erste Stelle?
Wiederbesinnung auf die pädagogische Freiheit
Und noch etwas wäre zwingend zu analysieren: Wie belastend wirken sich die vielen Top-down-Reformen der vergangenen Jahre aus? Bildung wurde «vernormisiert» und «veradministriert». Das Organisatorische dominiert das Pädagogische. Die Belastung der Lehrpersonen als Folge dieser Reformen mit der verstärkten Integration und der Verzettelung ins fachliche Vielerlei ist gestiegen.
Viele Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich gefangen im Korsett einer künstlich konstruierten Komplexität, die sie nicht mehr bewältigen können. Darum wollen auch immer weniger das wichtige Amt von Klassenverantwortlichen übernehmen. Vieles, zu vieles wird vorgeschrieben und von oben verordnet – oder eben gesteuert. Das minimiert die pädagogische Freiheit. Und die Freiheit gehört zur DNA jeder Lehrperson.
Eine schonungslos ehrliche Systemanalyse
Wir wissen: An unserer Volksschule läuft nicht alles rund. Ganz und gar nicht. Vieles wird leider unter den Tisch gekehrt oder nur hinter vorgehaltener Hand formuliert. Das bringt uns nicht weiter. Allerdings brauchen wir weder schöngeistige Illusionen noch irgendwelche praxisfernen Visionen; was wir brauchen, ist eine ehrliche Systemanalyse, schonungslos und radikal wirklichkeitsbezogen. Mit dem bisherigen So-tun-als-ob kommen wir nicht weiter. Leidtragende im Schulsystem sind immer die Schülerinnen und Schüler.
[1] Matthias Niederberger: Welche Schule braucht der Mensch?. In: NZZ, 17.09.2022, S. 15: Am Podium unter Leitung von NZZ-Redaktor Martin Meyer diskutierten: Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin, Silvia Steiner, Zürcher Bildungsdirektorin, Sergio P. Ermotti, Swiss-Re-Verwaltungsratspräsident, und Oliver Meier, Hochbauprojektleiter Marti AG.
[2] Julia Hofer: Tohuwabohu im Klassenzimmer. In: Beobachter 25/2021, S. 92f.
[3] Nils Pfändler, Lena Schenkel: «Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule». Interview mit Silvia Steiner, in: NZZ, 28.01.2019, S. 15.