Zweimal wurden im gestrigen Konzert – entgegen den Gepflogenheiten bei musikalischen Hochämtern – Ansprachen gehalten. Zu Beginn verabschiedete der Bratschist Pierre Tissonnier die Erste Geigerin Sandra Goldberg nach 32 Jahren der Mitwirkung im Zürcher Kammerorchester (ZKO) in die Pensionierung. Bei ihrem letzten Konzert gastierte der Dirigent Sir Roger Norrington. Er ist ein alter Freund des ZKO, hatte er doch als Principal Conductor von 2011 bis 2015 das Ensemble in seinem weltweiten Renommee gefestigt.
Nach der Pause sprach dann auch Sir Roger, der bald seinen 83. Geburtstag feiern kann. Er erläuterte die historisch informierte Aufführungspraxis, die er in den vergangenen fünf Jahrzehnten wesentlich mitentwickelt und namentlich auf die Musik des 19. Jahrhunderts angewendet hat. Diese Interpretationsweise sei „evidence based“, beruhe also auf neu entdeckten und sicheren historischen Grundlagen. In wenigen Strichen evozierte Norrington die Sixties als Epoche der ungestümen Aufbrüche in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur: Computer, Concorde, Mondlandung, Beatles. Dies sei die gegebene Zeit gewesen, um das Revolutionäre der Musik Beethovens neu zu entdecken und zu verstehen. Und auf solches solle das geschätzte Publikum sich nun gefasst machen. Nach einem verschmitzten „Bitte anschnallen!“ wandte sich der Dirigent auf seinem Drehstuhl dem Orchester zu und gab den Einsatz für Beethovens siebte Sinfonie.
Das Klassische radikal ausgeschöpft
Die Siebte gehört zu Beethovens populärsten Werken. Er komponierte sie 1811/12, nach einem Unterbruch zu den vorangegangenen Sinfonien. Sie ist insofern neuartig, als Beethoven hier nicht mehr auf ein aussermusikalisches Motiv Bezug nimmt. Das taten dann andere in der Rezeption nach der Uraufführung 1813 in Wien, indem sie das Werk als patriotisches Fanal des Kampfs gegen Napoleon auffassten. Eine solche Deutung lag unmittelbar nach der Völkerschlacht bei Leipzig in der Luft. Trotzdem, sie wird dem Charakter dieser Sinfonie kaum gerecht.
Beethoven ging es nämlich hier allein um Musik, genauer: um die radikale Ausschöpfung der kompositorischen Möglichkeiten, welche der klassische Kanon mit seiner Dur-Moll-Harmonik und den sinfonischen Ausdrucksformen zur Verfügung stellt. Norrington legte es darauf an, diese Radikalität hörbar zu machen. Kontrastierend zu seiner lässigen Haltung auf dem Drehstuhl und den minimalen Dirigiergesten forderte er von dem aufs äusserste konzentrierten ZKO scharfe transparente Artikulation und rhythmische Präzision. Der Chef konnte auch mal die Arme verschränken und sein Orchester lediglich mit Blicken leiten. Dank Norringtons Verzicht auf die bei „historisch“ ausgerichteten Aufführungen oft zu beklagenden Tempo-Exzesse waren alle Stimmen und Details der Partitur präsent. Vielen Konzertbesuchern dürfte es ergangen sein wie dem Rezensenten: Ganze Passagen des überaus bekannten Stücks meinte man gänzlich neu zu hören.
Ungewohnt war die vorwärtstreibende Gewalt des stampfenden Duktus, der Wagners Qualifizierung des Stücks als „Apotheose des Tanzes“ vergessen machte. Da war kaum Sublimes, Ätherisches zu vernehmen. Vielmehr ging es sehr irdisch zu. Hatte Beethoven etwa die ratternden Maschinen der aufkommenden Industrie im Kopf, die Stiefelschritte der marschierenden Infanterie, das Hufgedonner der Reiterheere?
Doch wenn da überhaupt Assoziationen einflossen, dann lediglich als Abstraktionen in Gestalt purer musikalischer Formen. Jeglicher Naturalismus ist dieser Musik ausgetrieben. Beethoven arbeitet mit bisher nicht gekannter Insistenz am musikalischen Material. Einige der melodischen Motive quält er förmlich durch nicht enden wollende Modulationen, die rhythmischen Muster presst er aus bis zur Trance. Was Techno heute macht, hat Beethoven vor zweihundert Jahren exerziert.
Nach jedem Satz drehte Norrington sich auf seinem Sessel zum Publikum als wollte er sagen: „Na, habe ich zuviel versprochen?“ Und prompt folgte jedesmal Applaus – im konventionsverhafteten Konzertbetrieb eine Peinlichkeit wie etwa ein unpassend gekleidetes Erscheinen beim Wiener Opernball, hier aber ein spontanes und einvernehmliches Ausscheren aus vertrauten Ritualen.
Sportlich abgehandelter Mendelssohn
Was sich hingegen vor der Pause abspielte, war nicht nur Musik aus einer anderen Zeit und einem anderen Geist, sondern auch eine Aufführung von minderer Qualität. Der Reihe nach!
Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert e-Moll entstand in den Jahren 1838 bis 1844. Wie auch die Beethoven-Sinfonie war es von Beginn weg ein grosser Erfolg und gehört zu den populärsten Stücken des Komponisten. Zu seiner Zeit fiel das Mendelssohn-Konzert mit einigen formalen Neuerungen auf; heute erscheint es aus einer Distanz von über 170 Jahren vor allem als ein Werk der reifen Klassik am Übergang zur Romantik. Trotz heftiger Bewegung in den beiden Ecksätzen – die Satzbezeichnungen enthalten die Begriffe „molto appassionato“ und „molto vivace“ – hat das Violinkonzert nichts Aufrührerisch-Revolutionäres. Es bändigt seine Emotionen mit einer balancierten Architektur, beruhigt sie in lyrischen Passagen, wirkt insgesamt abgeklärt. Mendelssohn ist ein Schöpfer musikalischer Bilder, er zaubert Impressionen von Landschaften und Träumen hervor. Dabei rüttelt er nicht wie Beethoven an den Zäunen des klassischen Geheges, sondern verinnerlicht den Ton, findet neue Gefühlswerte und Klangfarben.
Der Solist Christian Tetzlaff scheint an diesen Eigenheiten von Mendelssohns Werk weniger interessiert zu sein als an den Herausforderungen für den Virtuosen. Man darf wohl annehmen, dass er es war, der die sportlichen Tempi des ersten und dritten Satzes so gewünscht hat. Das Ergebnis war eine Darbietung von deutlich beeinträchtigter Qualität: Unsauberkeiten beim Solisten und im Orchester und ein resignierender Dirigent, der nach der Devise zu agieren schien: Bitte sehr, du hast es so gewollt.
Immerhin gab es trotz problematischer Vorzeichen auch starke Momente. Mendelssohns Komposition hält eine raue, fast ruppige Lesart aus. Vor allem in Dialogen zwischen Soloinstrument und Orchester und in leisen Passagen blitzte immer wieder das Geniale dieser Musik auf. Tetzlaffs beeindruckende Virtuosität bleibt bei allen Vorbehalten hinsichtlich Interpretation ein Phänomen für sich, das kein geringes Vergnügen bereitet.
Unterschiedliche Beifallsstürme
Das Publikum jedenfalls schien an dem sich mächtig ins Zeug legenden Geiger Gefallen zu finden. Tetzlaff riss sich selber durch heftigen Körpereinsatz manchmal fast von den Füssen und hatte erst noch das Glück, dass auf der Zielgeraden sich eine lockige Strähne aus seinem Pferdeschwanz löste und ihm romantisch in die Stirn fiel. – Tosender Applaus. Naja, ein bisschen über Verdienst, aber das ist man als Konzertbesucher mittlerweile gewohnt. Die Leute klatschen wie die Verrückten, um sich selbst zu attestieren, einem ausserordentlichen Ereignis beigewohnt zu haben. Muss es ja sein, schliesslich haben sie bezahlt.
Damit kann man leben, denn das Publikum unterscheidet auch bei allgemein generöser Gefallenskundgebung noch immer. In der Tonhalle war es zu hören: Nach der Beethoven-Sinfonie brach eine Begeisterung aus von Menschen, die nicht einfach ein „Wow“ meinten, sondern zuinnerst angerührt waren.
Schön, dass Sandra Goldberg ihre Karriere im ZKO mit diesem Ereignis abschliessen konnte!