Ein türkischer Staatsanwalt hat Anklage gegen zwei Parlamentarier erhoben. Wie erwartet, wurde der Vorsitzende der pro-kurdischen Partei, Selahettin Demirtasch, wegen „Propaganda für den Terrorismus“ angeklagt. Des gleichen Vergehens beschuldigt wird Sirri Sureyya Önder, ein Parteigenosse und Mitparlamentarier. Die Anklagen erfolgen aufgrund eines neuen Gesetzes. Dieses war vom türkischen Parlament – nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Abgeordneten – im Juli dieses Jahres, noch vor dem Putschversuch, verabschiedet worden.
Dieses Gesetz erlaubt es, jenen Abgeordneten, gegen die Anklagedossiers vorliegen, die parlamentarische Immunität zu entziehen und sie vor Gericht zu ziehen. Anklagedossiers konnten von der Polizei und den Staatsanwälten schon vor der Verabschiedung des neuen Gesetzes erstellt werden – und wurden erstellt. Die Parlamentarier besassen zwar Immunität, aber nur solange sie Parlamentarier waren. Nach ihrem Rücktritt oder dem Ende ihres Mandates konnten sie unter Anklage gestellt werden, und die vorbereiteten Dossiers konnten dann geöffnet werden.
112 Parlamentarier sind gefährdet
Das neue Gesetz beschränkt sich darauf, die Immunität jener Abgeordneten aufzuheben, gegen die derartige Dossiers vorliegen. Gegen sechs der 40 Abgeordneten der Nationalistischen Partei MHP liegen solche Dossiers vor. Ebenso gegen 22 der 317 Parlamentarier der regierenden AKP, sowie gegen 43 der 133 Abgeordneten der Hauptoppositionspartei CHP – und 41 gegen die 59 Parlamentarier der Kurdenpartei HDP.
Die Regierung – auf deren Weisung die Staatsanwälte agieren – ist jetzt also in der Lage, insgesamt 112 Abgeordnete vor Gericht zu stellen. Mit der Anklage gegen die beiden Vertreter der kurdischen HDP sind nun die ersten zwei Mitglieder des türkischen Parlamentes ihrer Immunität enthoben worden.
Nicht von Immunitätsentzug bedroht sind 34 Parlamentarier der MHP; 90 der CHP; 295 der regierenden AKP; 18 der HDP.
Instrument zur Einschüchterung
Die Anklage gegen die beiden pro-kurdischen Abgeordneten ist als ein erster Schritt zu betrachten, dem weitere folgen können, je nach Ermessen der Regierung. Dies bedeutet, dass die Regierung über ein Instrument verfügt, um die Parlamentarier einzuschüchtern. Wenn sie sich „kooperativ“ erweisen, dürften sie der Anklage entgehen, wenn nicht, müssen sie damit rechnen, angeklagt und möglicherweise in Untersuchungshaft genommen zu werden. Die Dauer einer solchen Untersuchungshaft hängt vom Richter ab.
Demirtasch und Önder sind angeklagt, Meinungen geäussert zu haben, die von der Anklage als „Propaganda für den Terrorismus“ (der PKK) eingestuft werden. Das Gesetz, auf das sich die Anklage beruft, ist das türkische Anti-Terrorismus Gesetz, dessen Neuformulierung die EU fordert. Damit die Türkei Visafreiheit entsprechend den Schengen-Bestimmungen erhält, will die EU, dass die Türkei 72 Voraussetzungen erfüllt. Eine Neuformulierung des Anti-Terror-Gesetzes ist eine davon.
Gefängnis bis zu fünf Jahren
Das türkische Anti-Terrorgesetz ist so formuliert, dass jede positive Meinungsäusserung in Bezug auf eine als terroristisch erklärte Gruppe oder deren Führungspersonen als „Propaganda für den Terrorismus“ aufgefasst wird – und mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft werden kann.
Die angeblich positiven Äusserungen über die PKK, die Demirtasch zur Last gelegt werden, gehen auf die Jahre zurück, in denen der türkische Staat einen Versöhnungsprozess mit der PKK begonnen hatte und über seinen Geheimdienst politische Gespräche mit dem eingekerkerten PKK-Gründer Abdullah Öclan führte. Diese Versöhnungsversuche waren im Juli 2015 gescheitert.
Zusammenarbeit – oder ...
Nach dem missratenen Putschversuch vom vergangenen 15. Juli hat Erdoğan versucht, einen Dialog mit den beiden Oppositionsparteien MHP und CHP zu beginnen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die pro-kurdische HDP hat er von jeder Zusammenarbeit ausgeschlossen, obwohl sie den Putschversuch sofort verurteilt hatte.
Erdoğan will offenbar die beiden Oppositionsparteien MHP und CHP in sein Boot ziehen, um zusammen mit ihnen seine Kompetenzen erweitern. Sein Ziel besteht darin, den Putschversuch zum Anlass zu nehmen, um seine Macht weiter auszubauen. Für den Fall, dass die Oppositionsparteien beginnen sollten, sich solchen Plänen zu widersetzen, hat Erdoğan ein Druckmittel. Wenn immer er es für gut findet, kann er weitere Abgeordnete unter Anklage stellen und ihnen so ihre Immunität entziehen. Im Maximalfall kann er gegen rund einen Fünftel des gesamten Parlamentes vorgehen.