Die Reportagefotografie kennt ihre eigenen Gesetze. Eigen ist ihr das Tempo, das Fotokünstlern heilige Schrecken einjagt, weil sie daran gewöhnt sind, ihr Sujet sorgfältig auszuleuchten, zu arrangieren, sich Zeit zu lassen, sich darauf einzulassen. Fotoreporter tun das alles auch, aber sie haben oft nur eine einzige Chance, um ein Bild zu machen, das zum Zeitdokument wird. Ihre Kunst ist es dann, das untrügliche Gefühl für den Moment zu entwickeln und schon zum voraus zu spüren, dass demnächst etwas geschehen wird, das bildwürdig ist. Klickt der Verschluss nicht im einzig richtigen Sekundenbruchteil, ist die Chance vertan. Blitzschnell den richtigen Ausschnitt, die richtige Belichtung, die richtige Geschwindigkeit zu wählen, versteht sich von selbst, ist jedoch schwer begreiflich zu machen – und es sind lauter Voraussetzungen, die im Zeitalter der fast vollautomatischen Kameras bald nicht mehr nötig zu sein scheinen.
Katja Snozzi würde es wie die meisten Fotojournalistinnen und -reporter weit von sich weisen, dass sie «Kunst» schuf. Und doch ist sie eine Künstlerin, auch jetzt, da sie kaum mehr fotografiert. Ihre Kreativität fokussiert sie heute auf bemerkenswerte Keramik-Werke. Kaum ein Wunder, dass viele ihrer Figurinen an die Fotos erinnern, die sie 30 Jahre lang rund um die Welt «geschossen» hat und die von einer anderen Sorte «Kunst» zeugen, die viel mit Instinkt und beruflicher Erfahrung, mit Intuition und Courage zu tun hat: Von der Kunst, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein, sich Menschen mit der richtigen Balance von Distanz und Empathie zu nähern, ihnen Respekt zu erweisen und trotzdem blitzschnell abzudrücken.
Der Beruf und die Berufung führte die Tessiner Fotografin, die an vielen Orten gelebt hat, durch viele Länder und Kontinente, als Fotojournalistin für Zeitungen oder im Auftrag humanitärer Organisationen. Vor Jahren noch hätte man sie jetzt in somalischen Flüchtlingslagern gesucht, in Benghasi oder Afghanistan, auf den Spuren einer Aktualität, die für sie immer mit Menschen zu tun hatte. Sie bereiste Kriegsgebiete und Katastrophenregionen, sie machte die Fotos, wenn die schreibenden Kolleginnen und Kollegen Prominente und einfache Leute interviewten, und die Bilder passten immer symbiotisch zum Text. Katja Snozzi als Kollegin war unterwegs immer Lady und Kumpel, fair und witzig, unermüdlich und genau in der Arbeit, mit der Kamera scheinbar aus lauter Augen für Situationen und Situationskomik bestehend, neugierig und auch allem Schönen zugetan. Daran hat sich nichts geändert.
Katja Snozzi hat Fotos von Opfern nach Hause gebracht, die immer noch die menschliche Würde vermitteln, die sie ihnen ganz selbstverständlich und bei allem Reportagetempo unerbittlich zugestand. Sie schuf auf ihre Weise etwa Fotos von Frauen mit Kindern, die an Madonnenbilder aus früheren Jahrhunderten erinnern. Botticelli malte sie, wie Katja Snozzi sie fotografierte. Es ist ihr auch gelungen, die Symbiose von Menschen mit ihren Landschaften einzufangen, sie, die am Anfang so gerne vor allem die Natur festhielt. Aber auch den Humor gewisser Situationen hielt sie fest, sie, die so gerne mit ihrer rauchigen Stimme lacht. Auch heute noch, obwohl das Schicksal ihr wegen Komplikationen nach einer Rückenoperation die Bewegungsfreiheit und damit die Fotografie einschränkte.
In der Retrospektive, die Locarno ihr widmet, strahlen keine bekannten Gesichter von den Wänden des Palazzo Casorella, obwohl sie nicht wenige von ihnen fotografierte. Eines ihrer Porträts von Max Frisch ziert eines der besten Bücher, die über den Schriftsteller erschienen sind, und es erfasst seine Persönlichkeit wie wenige andere Bilder. Die Auswahl, welche die Fotografin mehr oder weniger dem Kurator der Retrospektive überliess, hält stattdessen die Welt fest, wie Katja Snozzi sie sah, in Schwarz-Weiss, das ihrer Philosophie von Fotografie besser entspricht als bunte Farben. Katastrophen und Kriege, traumatische und friedlichere Erlebnisse werden magisch auf die Betrachtenden übermittelt. Der Titel ist ihren Werken kongenial zugeordnet: MondoMomenti, besser und genauer könnte die Ausstellung nicht heissen. Es gibt dazu einen sorgfältig gestalteten Katalog, der auch als Bildband im Buchhandel erhältlich sein wird.
Locarno ist demnächst Schauplatz des bekannten Filmfestivals. Nicht wenige Empfänge finden im Casorella statt. Wer sich den flüchtigen Filmbildern hingibt, sollte sich unbedingt auch die Fotos von Katja Snozzi anschauen, die eine andere Ewigkeit vermitteln.
Katja Snozzi MondoMomenti Il Mondo In 127 Scatti – Die Welt in 127 Augenblicken
- Juli bis 21. August
Casorella, Locarno, Eingang von der via al Castello
Dienstag bis Sonntag 10-12 und 14-17 Uhr (wähend des Filmfestivals durchgehend geöffnet)