«Ich suche immer nach dem Andern». Wie sie das meint, das zeigt die 85-jährige Herlinde Koelbl in Konstanz mit ihren Pflanzenbildern. Die Fotografin hat sich immer wieder mit enormer Beharrlichkeit mit oft mehrjährigen Langzeit-Projekten beschäftigt.
«Metamorphosen»: Die Ausstellung im Kunstverein Konstanz mit Bildern der Fotografin Herlinde Koelbl ist ungewöhnlich und typisch zugleich. Ungewöhnlich, weil für einmal nicht der Mensch und seine Lebenswelten im Zentrum ihrer Beobachtung stehen, sondern die Natur. Aber typisch, weil sie die Serie der aussergewöhnlichen fotografischen Projekte fortsetzt, denen sie sich seit den frühen Achtzigerjahren mit grosser Hingabe und Energie zugewandt hat.
«Durch und durch barocke Bilder»
Noch nie hat man die Pflanzenwelt so gesehen wie hier. Es sind, wie es Bernd Stiegler von der Universität Konstanz bei der Eröffnung der Ausstellung beschreibt, «durch und durch barocke Bilder, die wuchern und sich winden, die Wachstum zeigen und Wildwuchs, die Fülle zelebrieren, die Farben feiern, die Formen ausloten, die Falten folgen. Es sind Bilder, die dem Wandel folgen, dem Moment, an dem Fülle in Verfall umkippt und die Pflanzen ein letztes Mal leuchten und strahlen und blühen und fast Fleisch zu werden scheinen in ihrer Fragilität, bevor sie vergehen und ihre überbordende Pracht verlieren.» Wo sie sie fotografiert hat und um was für Pflanzen es sich handelt, das bleibt ein Geheimnis, das auch das im Steidl-Verlag erschienene Begleitbuch nicht lüften mag.
Aus gutem Grund, wie Herlinde Koelbl sagt: «Meine Bilder sollen Assoziationen wecken, da würde jede nähere Kennzeichnung hinderlich wirken.» Als sie in München gezeigt worden sei, da habe sie des öftern Besucherinnen und Besucher beobachtet, erzählt sie am Tag vor der Eröffnung in Konstanz. «Manche waren emotional derart berührt, dass sie Tränen in den Augen hatten. Kann sein, dass sie ihre eigene Vergänglichkeit spürten, obwohl es ja die Natur ist, die ich da auf meinen vielen Reisen eingefangen habe.»
Mit den Kindern auf Augenhöhe
Der Tod, das Alter, das Verfliessen der Zeit: All dies beschäftigt die bald 85-Jährige schon lange. Sie liebt Langzeit-Projekte, die sie, wenn ein Thema einmal von ihr Besitz ergriffen hat, mit enormer Zähigkeit verfolgt.
Herlinde Koelbl, geboren in Lindau, aber bald von dort weggezogen, ist nach einem Modestudium als 37-Jährige eine erfolgreiche Modedesignerin, als ihr ein Bekannter Triple-X-Filme schenkt, mit denen sie ihre Kinder fotografiert, und zwar, wie sie in einem andern Gespräch erklärt hat, «nicht von oben, sondern ich setzte mich ins Gras, begab mich auf die Ebene der Kinder und war damit Teil von ihnen». Als sie so die Fotografie entdeckt, da ist es für sie «wie ein Ankommen».
Es beginnt das Ausprobieren, Suchen, Lernen, alles autodidaktisch. «Es war wie auf sich verästelnden kleinen Nebenwegen zu gehen», schreibt sie im Vorwort zu ihrem 2009 erschienenen Buch «Mein Blick», das eine erste Zwischenbilanz zieht. Und weiter: «Doch ziemlich bald war die Sicht klar. Ich wollte Menschen, das Leben fotografieren. Menschen zu fotografieren ist ein Abenteuer. Manchmal entsteht eine nie erwartete Nähe und Vertrautheit, manchmal ist es ein sanftes, zähes Ringen, manchmal ein wortloser Dialog, manchmal ein Erkennen.»
Jahr- und Viehmärkte, Körper, Politiker
Rasch bilden sich die Grundzüge ihres Arbeitens heraus: Sie kümmert sich nicht um irgendwelche Trends, hat keine Vorbilder, sie arbeitet allein, nimmt zuweilen grosse Strapazen auf sich, bereitet sich minutiös vor, und verfolgt ihre Projekte über mehrere Jahre mit enormer Beharrlichkeit. Ihr Werkzeugkasten wird dabei grösser: Zu Porträtserien führt sie begleitende Interviews, ergänzt ihre Fotografien mit Videos und Dokumentarfilmen. Die Themen sind ganz verschieden. «Das», sagt sie, «fordert den Geist heraus und spornt meine Neugier an». Und zwar in ganz unterschiedliche Richtungen.
Sie fängt an mit den bayerischen Jahr- und Viehmärkten, erkundet deutsche Wohnzimmer, später die Schlafzimmer. Widmet sich in intimen, aber niemals voyeuristischen Aufnahmen zuerst der männlichen, dann der weiblichen Sexualität. Porträtiert jüdische Intellektuelle, was sie später als ihre wichtigste Arbeit bezeichnet. Begleitet mit Kamera und Aufnahmegerät Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und dokumentiert die Spuren, die die Macht und ihre Krisen in das Gesicht etwa von Angela Merkel zeichnet, deren Weg sie über drei Jahrzehnte begleitet.
Nie lebendiger als im Angesicht des Todes
Eine zerschossene Zielscheibe, durch die das Morgenlicht fällt, geht ihr nicht mehr aus dem Kopf, sie ist der Anstoss zu «Targets», für das sie in 31 verschiedenen Armeen fotografiert und nachfragt. Wie ist es zu töten, auf welche Ziele werden Soldaten konditioniert? Wie sehen die Zielscheiben aus, wie die künstlichen Dörfer, in denen der Häuserkampf geübt wird? Der Tod, das ist nicht nur das friedliche Sterben des Menschen oder das prachtvolle Verblühen der Pflanzen. Das ist auch die Gewalt.
Das ist das Töten, wie wir es gerade wieder in der Ukraine erleben. «Ich bin bereit, jemanden zu erschiessen, aber auch, erschossen zu werden», erzählt ihr ein Soldat in Afghanistan, «nie bist du lebendiger als im Angesicht des Todes», beschreibt ein anderer seine Erfahrung. Sekundenbruchteile entscheiden: «Sobald du nachdenkst: Soll ich schiessen oder nicht, ist es schon zu spät, und du bist tot», sagt ein israelischer Soldat.
Wenn sie von solchen Projekten erzählt, dann spürt man die tiefe Neugier, die Herlinde Koelbl noch immer treibt, und die sie, wie es ihre Gewohnheit ist, in einem Projekt einer gründlichen Betrachtung unterzogen hat – in «Faszination Wissenschaft» hat sie sechzig Forscherinnen und Forscher danach gefragt, was sie antreibt und zu welchen Erkenntnissen sie gelangt sind. Lebenslange Leidenschaft: Das ist, was die Fotografin mit der Wissenschaft verbindet. «Ich suche immer nach dem Andern», sagt sie, ganz munter. Und: «Das nächste Projekt ist schon in Arbeit. Aber ich verrate nicht, worum es geht.»
Herlinde Koelbl: Metamorphosen. Kunstverein Konstanz, bis 29.September