Sarah Carons Bilder von Pakistan sind Ausdruck einer trauernden Liebe. Sie sieht die Schönheit der Landschaften, die Anmut der Menschen und weiss zugleich, wie prekär und brüchig deren Leben ist. In einem ausführlichen Essay beschreibt sie die ganze Tragik dieses Landes.
Politisch betrachtet ist Pakistan ein künstliches Gebilde, das 1947 mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft entstand. Die Künstlichkeit dieses Gebildes zerstörte gewachsene Strukturen. Zahllose Menschen wurden umgesiedelt und kamen auf den damit verbundenen gewaltsamen Märschen ums Leben. Zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen wuchs der Hass. Bis heute verhindert der Gegensatz zwischen Hindus und Muslimen jede politische Annäherung, die für den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens unabdingbar ist.
Absolute Unterordnung
Zu den politischen Verwerfungen kommen Stammestraditionen, die den Weg in eine moderne Gesellschaft verstellen. Sarah Caron schreibt: «Die zum Überleben notwendige Abhängigkeit von Hierarchien siegt über den gesunden Menschenverstand. Von Geburt an ist ein Mann zuerst seinem Vater verpflichtet, nicht nur durch familiäre Zuneigung, sondern aus der Verpflichtung zur absoluten Unterordnung. Das Kind muss dem Patriarchen bis zu seinem Tod gehorchen, Punkt.»
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass anstelle funktionierender Verwaltungen all und überall der Nepotismus blüht. Und die Politiker betreiben systematisch ein Doppelspiel, indem sie Gelder vom Westen und der Uno annehmen, sie aber in Kanäle leiten, die jeder demokratischen Entwicklung spotten.
Entsprechend niedrig sind die Löhne. Um das Unglück komplett zu machen, liegt die Inflationsrate bei 40 Prozent, und der Staat verkauft Arbeiter an die Golfstaaten. Man kann darin durchaus eine Art Sklavenhandel oder Leibeigenschaft sehen. Die wenigen gut ausgebildeten Fachkräfte werden allerdings auch von den reichen Nachbarstaaten beansprucht, so dass sie im eigenen Land fehlen.
Dazu leiden die Menschen unter dem Klimawandel, der das ganze Land hart trifft: Im Norden schmelzen die Gletscher, während im Süden Dürre herrscht, wobei dort die wiederkehrenden Monsunüberschwemmungen noch weiter zur Ernährungskrise beitragen.
Es ist eine grosse Kunst, vor diesem Hintergrund Bilder aufzunehmen, die etwas zum Ausdruck bringen, was die Menschen «trotz allem» am Leben erhält und ihnen auch unter den grössten Widrigkeiten Momente des Glücks beschert. Das ist keine Romantisierung, sondern Empathie. Diese Empathie lässt es zu, dass die Menschen auf den Bildern auch ihren Ernst und ihre grossen Sorgen zum Ausdruck bringen. Aber in allem Dunkel gibt es Momente der puren Lebensfreude, gerade bei den Kindern. Und es gibt kreative Spiele mit westlichen Modeaccessoires, die etwas vorwegnehmen, das noch in weiter Ferne liegt.
Der Band, der künstlerisch von Alois Lammerhuber gestaltet wurde, enthält drei Teile: Zunächst erscheinen Bilder ohne Bildlegenden. Der Betrachter konzentriert sich ganz auf ihre ästhetischen Reize. Nach und nach erkennt er allerdings, dass in all dieser Exotik, die ihn auf den ersten Blick fasziniert, Brüche und Hinweise darauf zu erkennen sind, dass er keineswegs nur eine heile Welt betrachtet.
Es folgt der Essay von Sarah Caron. Die Bilder des dritten Teils sind mit Legenden versehen. Es ist, als spräche Sarah Caron verhalten weiter. Überhaupt ist sie eine überragende Fotografin und Journalistin. In den letzten 25 Jahren ist sie auf ihren Reportagen weltweit unterwegs gewesen. Das letzte Jahrzehnt hat sie im Auftrag von verschiedenen grossen Medien viel Zeit in Pakistan verbracht. 2019 wurde Sarah Caron mit dem Pulitzer Grant for Editorial Crisis Reporting ausgezeichnet.
Sarah Caron: Pakistan. Wo die Berge weinen. Edition Lammerhuber, 2023. 144 Seiten, 72 Fotos, 49,90 Euro