Es ist heiss in Indien, so heiss, dass man sich zehn Minuten lang überlegt, ob es sich lohnt, einen Zettel unter dem Pult aufzuheben. Bietet sich aber plötzlich die Chance, nach Bhutan zu fliegen, ist man im Nu bereit. So geschehen am letzten Mittwoch, als wir, auf Einladung des Buchfests ‘Mountain Echoes’, nach Paro flogen. Es hätte besser nicht sein können: der Himmel verhangen, regennasse Strassen, 25 Grad.
Bhutan war auch deshalb so angenehm, weil es eine Fluchtmöglickeit bot aus dem politischen Trommelfeuer – Triumphgeheul, Wundenlecken, Rachedrohungen - mit dem Indien nach der Wahl Narendra Modis eingedeckt wird. Stattdessen: Geschichten von fliegenden Affen, von aphrosidischen Gewürzen, dem Nationaldichter Pema Lingpa, dem seine Gedichte im Traum erschienen, die er beim Erwachen nur noch transkribieren musste; der Obsession der Nobelpreisträgerin Herta Müller mit Haareschneiden, und gewundenen Erklärungen, warum so viele Häuser mit phallischen Eruptionen dekoriert sind.
Kindheitserinnerungen
Und es wurden Kindheitserinnerungen wiedergegeben, zum Beispiel jene der Frau, die vor 55 Jahren in einem Dorf in Zentral-Bhutan geboren wurde. Ihre Liebe zum Melken der Kühe und zum Holzsammeln, wie jene zu ihrer jüngeren Schwester, führte sie darauf zurück, dass ihr Vater sie beide in einem Tuch um den Rücken band und so seiner Arbeit nachging. Sie war die Älteste von neun Kindern und erzählte, dass sie bei den meisten Geburten dabei gewesen sei. Genauso wie ihr Vater, der alle Kinder entband, und dem – einer alten Tradition folgend – seine Frau mit einem Bambusstock auf den Rüücken schlug, wenn ihr die Presswehen zuviel wurden. Er war es auch, der die Mutter nach der Niederkunft während zwei Monaten jeden Tag ins Badehaus trug, und sie badete.
Kein Wunder, sagte Wangmo Wangchuck, dass solche Väter auch gute Grossväter abgaben. Sie erzählte, dass ihr Grossvater die älteren Kinder jeweils bei der geteerten Strasse abholte, wenn sie aus dem Internat in Paro zurückkamen (im Dorf gab es damals keine Schule). Von dort waren es fünfundzwanzig Kilometer bis ins Dorf. Er wusste, bei welchen Steigungen die Kinder besonders müde wurden, und so hatte er auf dem Hinweg im Gebüsch Orangen versteckt. “Er sandte uns los, um sie zu finden, und unsere Müdigkeit war vergessen”. Sie übernachteten jeweils an einem Aussichtspunkt, von wo aus sie zum ersten Mal ihr Dorf erblickten. Vor dem Aufbruch am nächsten Morgen verbrannten sie Wacholder-Blätter, und bald sahen sie vom Dorf ebenfalls Rauch hochsteigen – ihre Grossmutter hatte das Signal aufgenommen und hiess sie willkommen.
Gastfreundschaft, Dienstbereitschaft
Wangmo Wangchuck, die den rund hundert Anwesenden (darunter vielen Schülern) aus ihrer Kindheit erzählte, war keine gewöhnliche Frau. Sie war bis vor sechs Jahren die Königin von Bhutan gewesen, und heute ist sie ‘Königinmutter’. Sie teilt diesen Titel mit ihren drei Schwestern, die der frühere König Jigme Singhye Wangchuck ebenfalls geheiratet hatte.
Als ich diese Geschichte meinem Schweizer Freund in Thimphu erzählte, rümpfte er die Nase. Da sei doch wohl auch handfestes Romantisieren dabei. Hatte ich vergessen, dass damals in Bhutan noch Sklaverei herrschte? Ja, schon. Aber war es nicht dennoch staunenswert, dass ein Bauernkind vom König (Jigme Wangchuck kam bereits mit siebzehn auf den Thron) zur Braut gewählt wurde, fast so erstaunlich wie die Tatsache, dass er gleichzeitig vier der sieben Schwestern ehelichte? Was mich aber noch mehr beeindruckte: dass eine Königin so selbstverständlich und stolz über das Melken und Holzsammeln und Feuermachen sprechen kann, als ginge es um die Geschicklichkeit einer Edeldame für Kunststickerei.
Eingebettet waren solche Erzählungen in eine Gastfreundschaft und Dienstbereitschaft, die den Besucher auch beim zwölften Mal noch beeindrucken. Es sind nicht nur die Minister und hohen Beamten, die Lehrerinnen und Journalistinnen, die sich mit diskreter Höflichkeit um das Wohl der Besucher sorgen. Die Taxifahrer und Zimmermädchen, sogar der Schuhmacher, den ich aufsuche, sind zuvorkommend, weder anbiedernd noch desinteressiert.
Jugendarbeitslosigkeit
Natürlich merke ich auf, wenn ich erfahre, dass die Moderatorin des Literaturfests im Hauptberuf Airhostess ist; wenn ich vom Taxi-Chauffeur, der fliessend Englisch spricht, höre, dass er einen College-Abschluss hat, gleich wie der Lobby-Manager im Hotel Druk. Das hehre Ziel des Bruttosozialglücks fordert ihren Preis. Jedes Kind kommt in die Schule, der Zugang zu Bachelor-Kursen und selbst einem Master-Abschluss ist so leicht wie noch nie. Aber was tut man mit einem Schulabschluss, auch einem höheren, wenn das Stellenangebot fehlt?
Es gibt bereits heute einen enormen Überhang von Jugendarbeitslosigkeit, weil die Jobs fehlen, aber auch weil die eigentliche Berufsausbildung kaum existiert. Und wer will schon beim Bau arbeiten, beim Strassenbau zumal, wenn er links und rechts von ‘Gross National Happiness’ (GNH) - Lebensqualität, Kultur, Umweltdenken - eingelullt wird. Die Dreckarbeit überlässt man da lieber den indischen Arbeitern (rund sechzigtausend, an die acht Prozent der Bevölkerung).
Rauchverbot
Die Regierung, zumal die letzte, inzwischen abgewählte, geht mit dem Beispiel voran. Autofreie Tage, die für die städtische Wirtschaft eher einem arbeitsfreien Tag nahekommen; strenge Umweltauflagen, etwa beim Holzbau, als ware Bhutan ein reiches Land, das sich diese leisten kann. Aber leider schweigt sich die GNH-Bibel darüber aus, ob und wie man die ‘animal spirits’ unternehmerischen Handelns wecken kann – oder darf.
GNH ist immer noch sehr populär, weil es von der buddhistischen Lebensphilosophie getränkt ist, die im Volk tief verwurzelt bleibt. Aber es gibt erstmals auch leichte Kritik, etwa am strikten Rauchverbot, das härter ist als die Bestrafung von Drogenhandel, einer neuen und beunruhigenden Sozialkrankheit. Und es gibt Leute, die behaupten, dass die letzte Regierung nicht zuletzt deshalb unverhofft abgewählt wurde, weil sie GNH auf die Spitze trieb und eine staatlich verordnete Ideologie daraus machte.
‘Why don’t you come back with me?’
Das ist gar nicht notwendig, denn die Bhutaner sind auch ohne staatliche Gebotstafeln mit genügend Gemeinsinn ausgestattet, um eine Balance zu finden. Das zeigt nicht nur der wunderbar leise und leicht verlaufende Autoverkehr in Thimphu. Es gilt auch für die immer noch flache Hierarchie der Gesellschaft.
Die Kindheitserinnerungen der Königinmutter sind ein Beispiel dafür, etwa wenn sie erzählte, mit welcher Selbstverständlichkeit ihr Vater sogenannte ‘weibliche’ Rollen übernahm. Ich erfuhr diese soziale Durchläsigkeitein ein letztes Mal, als wir am Sonntag nach Delhi zurückflogen. Vor dem Flugzeug in Paro wurde der rote Teppich ausgerollt, weil der Premierminister mitflog, zur Teilnahme an der Regierungseinsetzung seines neuen indischen Kollegen. Während eines Zwischenhalts kam er aus der Business Class ins Economy-Abteil. Er fragte uns über das Buchfest aus, schwatzte mit Touristen, stand herum, als wäre er der Chief Purser. Als wir über die Hitze stöhnten, die uns in Delhi erwartete, meinte er scherzend: ‘Why don’t you come back with me?’ Schön wär’s.