Bereits das Plakat verrät es: Die berühmten gelben Schuhe, welche die Güllener bei zunehmendem Wohlstand sich nach und nach leisten, sind hier durch ein rotes Exemplar ersetzt abgebildet. Kein Versehen des Grafikers sondern ein bewusstes Signal, wie man uns bestätigt: Die weltbekannte Dürrenmatt-Tragikomödie kommt anders daher als gewohnt. Sowohl Claire Zachanassian wie auch Alfred Ill sind deutlich jünger, die Milliardärin reist – geografisch bedingt – nicht mit dem Zug, sondern mit dem Schiff an, Gegenwartsszenen werden parallel durch Rückblenden untermalt, wenn die Vergangenheit die beiden Hauptfiguren einholt. Die Eunuchen Roby, Toby und Loby werden durch Bodyguards ersetzt sowie die mehreren Ehegatten der Zachanassian ganz gestrichen. Und was die Schuhfarben betrifft: In Güllen trägt man diesmal olivgrüne Stiefel um im sumpfigen Wasser waten zu können….
Ein wesentlich anderer Akzent wird in der Rolle der «alten Dame» gesetzt: Kläri Wäscher alias Claire Zachanassian kommt nicht nur als Rächerin nach Güllen zurück – von der früheren, aber tragischen Liebesaffäre mit Alfred scheinen bei beiden Gefühle geblieben zu sein, Liebe und Hoffnung – diese durch ein junges Mädchen dargestellt – verleihen der Geschichte einen versöhnlicheren Schluss als im Original. Doch Ill entgeht dem Tod auch so nicht, ganz im Dürrenmattschen Sinn: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Und nach der Übergabe des Milliardenchecks richtet Claire auch die Wankelmütigen von Güllen und ruft ihnen «Mörder, ihr seid alle Mörder» nach.
Dürrenmatt in die Augen schauen können
Der grösste Unterschied ergibt sich zwangsläufig aus der Tatsache, dass das Theaterstück in Thun die Form eines Musicals angenommen hat. Wie kommt man vom Wort zum Ton, von Sätzen zu Melodien?
Der Berner Moritz Schneider hat zusammen mit dem englischen Musicalstar Michael Reed die Musik komponiert, Wolfgang Hofer die Liedtexte verfasst. «Die grosse Herausforderung bestand darin, zwei Genres zusammenzuführen – den Text des Weltklassikers von Dürrenmatt und die Gesetze eines Musicals», erklärt Schneider gegenüber Journal 21. «Die Geschichte musste gestrafft und teilweise zugespitzt werden. Gesang hat zudem die Eigenschaft, eher eine Stimmung oder ein Gefühl zu vermitteln und nur bedingt eine Handlung voranzutreiben», präzisiert das Programmheft. «Für diesen anspruchsvollen Spagat mussten wir uns zuerst über die Grundtonalität und den Stil einigen und dabei vermehrt Emotionen in die Handlung bringen.
Im Buch ist die Zachanassian wenig präsent und eiskalt. Das haben wir angepasst», so Komponist Schneider, der bereits beim Musical «Dällebach» Erfahrungen sammeln konnte. «Das Komponieren eines solchen Werks entsteht nicht am Reissbrett wie bei einem Zeichner. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und summe eine Melodie ins Diktafon.» Über allem steht aber für ihn «dass wir Dürrenmatt in die Augen schauen könnten, wenn er noch leben würde.»
«Irgend etwas machen wir Menschen falsch»
Das Premierenpublikum an dieser elften Produktion der Seespiele Thun war begeistert und lohnte es mit minutenlangem Applaus und einer Standing Ovation, was vor allem den gesanglichen und der choreografischen Leistungen des ganzen Teams galt. Mit Pia Douwes (Zachanassian) und Uwe Kröger (Alfred Ill) steht zudem eine Star-Besetzung von internationalem Renommee auf der Seebühne: Die beiden treten seit über zwanzig Jahren immer wieder gemeinsam in Musicals auf. Sie haben eine Erfahrung, die man ihnen vom ersten bis zum letzten Ton anhört. Der Deutsche Sänger Uwe Kröger lebt heute in Wien und hat denselben Jahrgang (1964) wie die Niederländerin Pia Douwes, die ihre musikalische Ausbildung in London und ebenfalls in Wien erworben hat; beide wurden schon mehrfach ausgezeichnet.
Was hat Uwe Kröger bewogen, die Rolle des Alfred Ill in der Thuner Inszenierung anzunehmen? «Es sind die offenen menschlichen Grundfragen im Dürrenmatt-Stück, die mich beschäftigen: Wann sind wir couragiert, speziell wenn wir die Wahl haben? Inwiefern heiligt der Zweck die Mittel? Wie käuflich sind wir Menschen? Wenn wir wirklich lernfähig wären, gäbe es wohl keine Kriege mehr auf Erden – also irgend etwas machen wir falsch – , und da brauchen wir immer wieder diese Erinnerung, diese Ermahnung. Vielleicht ist das hier ein möglicher Weg, auch ein jüngeres Publikum zu erreichen und für diese Thematik zu sensibilisieren.» Die Themen Rache und Sühne hätten ja gerade nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg eine enorme Rolle gespielt, was Dürrenmatt mehrmals veranlasst hat, am Stück Änderungen vorzunehmen.
Kröger: «Obwohl Ill offensichtlich in seiner Jugendzeit die falsche Wahl getroffen hat, geht er geläutert aus dieser Geschichte. Ill hat die Angst besiegt und ist eigentlich der Einzige im Stück, der eine Entwicklung durchgemacht hat. Überall, wo abgrundtiefer Hass vorhanden ist, muss auch noch Liebe vorhanden sein – das ist mein Glaube daran. Das fasziniert mich an dieser Rolle.»
Hoffnung trotz Scheinheiligkeit
Gewöhnungsbedürftig an der Inszenierung ist hingegen das Bühnenbild, das sich erst im Laufe des Spiels erklärt. Der Wirrwarr an Stangen und Röhren entpuppt sich als Struktur der am Boden liegenden Kleinstadt Güllen, die sich während des Handlungsverlaufs langsam wieder aufbaut und aufrichtet, wobei die Fassadenstrukturen durch wechselnde Leuchtstoffröhren weitere Botschaften (wie die Kruzifixe der verlogenen Geistlichkeit) offenbaren.
Dass sich die Handlung beinahe auch anders hätte entwickeln können, dokumentieren nicht nur das Lied «Liebe endet nie», sondern auch die beiden grossen Würfel, die im Zentrum der Bühne liegen.
«Der Besuch der Alten Dame – das Musical» www.thunerseespiele.ch noch bis zum 5. September 2013