Die Kunst der Rede, griechisch Rhetorik, ist nicht von uns Deutschschweizern erfunden worden. Selbst wenn wir uns in der vertrauten Mundart ausdrücken, fällt es uns oft schwer, einen Sachverhalt klar und fliessend auszudrücken. Die Schüler, von der Volksschule bis zur Universität, äussern sich bei uns in freier Rede oft ungern und stockend. Listige Pädagogen haben, um unsern Lehrern die Mühe des freien Vortrags zu ersparen, die Kritik am «Frontalunterricht» erfunden. So gibt es immer weniger Lehrer, die ein Thema in zusammenhängender Rede zu erläutern imstande sind, und es gibt immer weniger Schüler, die von solchen Vorbildern lernen könnten.
Ungünstige Voraussetzungen für grosse Rhetorik
Für diesen allgemeinen Mangel an rhetorischer Begabung gibt es zwei plausible Erklärungen. Erstens: Wir sind ein Hirten- und Bauernvolk geblieben, und die Kunst der freien Rede erlernt sich weder im Stall noch im Wirtshaus, sondern in den Salons und auf dem Parkett der höfischen Gesellschaft.
Zweitens: Die Geschichte unseres Landes ist – glücklicherweise – arm an dramatischen und spektakulären Vorkommnissen, welche das rednerische Talent herausfordern und den Redner zu Höchstleistungen anspornen könnten. Unser Land ist nicht von Hitlerdeutschland angegriffen worden und so brauchten wir keinen Churchill, der die unvergesslichen Worte sagen konnte: «Ich habe nichts anzubieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiss.» Und nie musste die Schweiz von fremder Besatzungsmacht befreit werden, sodass wir der Radiorede eines Charles de Gaulle nicht bedurften, der am 6. Juni 1944 ausrief: «Hinter einer Wolke voller Blut und Tränen erscheint die Sonne unserer Grösse wieder.»
Dass trotz diesen Hindernissen auch in der Schweiz bedeutungsvolle Reden gehalten worden sind, beweist das Buch «Reden, die Geschichte schrieben», das der Historiker Felix Münger verfasst hat. Der Autor druckt zehn Reden im Wortlaut ab, welche Schweizer Politiker und Schriftsteller im Verlauf des 20. Jahrhunderts gehalten haben. Dabei wird der Begriff der Rede sehr weit gefasst, finden sich doch in dieser Anthologie sowohl der Song, mit dem der Basler Liedermacher Aernschd Born 1975 gegen das geplante Kernkaftwerk Kaiseraugst protestierte, als auch die Rücktrittserklärung von Bundesrätin Elisabeth Kopp vom 12. Dezember 1988.
Mobilisierende Worte zu Zeitfragen
Haben die Reden, wie Müngers Buchtitel es verheisst, je Geschichte geschrieben? Das zu behaupten, hiesse wohl, den Mund etwas voll zu nehmen. Aber von den meisten der hier gesammelten Reden gilt, dass sie in bestimmten Augenblicken unserer Geschichte ein brisantes Problem angesprochen und öffentliche Beachtung gefunden haben.
Das lässt sich etwa von der Rede «Unser Schweizer Standpunkt» sagen, mit der Carl Spitteler während des Ersten Weltkriegs den Zusammenhalt des Landes zu stärken suchte. Es gilt aber auch vom Aufruf, mit dem Emilie Lieberherr am 1. März 1969 auf dem Berner Bundesplatz für die politische Gleichberechtigung der Frauen eintrat. Von unleugbarer Bedeutung für die Geschichte unseres Landes sind sicherlich auch die Reden, die Bundesrat Pilet-Golaz 1940 zur Neutralität der Schweiz und Eduard von Steiger zwei Jahre später zur Stärkung des Widerstandswillens gehalten haben. In beiden Reden finden sich Passagen, welche die Kritik der Historiker herausgefordert haben und kontrovers diskutiert worden sind.
Die literarisch bedeutendsten Reden des Sammelbandes dürften von zwei Schriftstellern, von Spitteler und Dürrenmatt, gehalten worden sein; aber auch Christoph Blocher, man mag ihm zustimmen oder nicht, erhebt sich mit seiner Albisgüetlirede von 1992 über helvetisches Mittelmass. Felix Münger legt nicht bloss Texte vor; er berichtet auch eingehend über ihre Entstehungsgeschichte und stellt sie in historischen Kontext. Diese Kommentare sind sorgfältig recherchiert und besonders wertvoll.
Zum Vergleich: Reden aus aller Welt
Wer durch Müngers Sammlung von Schweizer Reden auf den Geschmack gekommen ist, kann zu einem ähnlichen Sammelband greifen, der unter dem Titel «Grosse Reden. Von der Antike bis heute» von Kai Brodersen herausgegeben worden ist. Wir begegnen hier berühmten Reden der Weltgeschichte von Papst Urban II, der zum Kreuzzug aufrief, bis zu Willy Brandts grosser Berliner Rede nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Ein grosser Redner, wohl der berühmteste der Weltgeschichte überhaupt, fehlt leider in dieser Anthologie, nämlich Cicero, der die Kunst der Rede gleichwertig neben die Kriegskunst gestellt hat.
Hin und wieder kann es geschehen, dass wichtige Reden in Vergessenheit geraten, und sich nur einzelne Teile ins kollektive Gedächtnis eingraben. Man denke nur an Martin Luther Kings «I have a dream» oder an Obamas «Yes, we can.» Und hier, im Bereich der fragmentierten Überlieferung, hätte die Deutschschweiz möglicherweise eine echte Chance, auf dem Gebiet grosser Rhetorik international mitzureden. Man denke nur an Alt-Bundesrat Ogis «Freude herrscht».
Münger, Felix, Reden, die Geschichte schrieben. Stimmen zur Schweiz im 20. Jahrhundert, Baden 2014.
Kai Brodersen, Hrsg., Grosse Reden. Von der Antike bis heute. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2002.