Bei den jüngsten Wahlen im Kanton Bern gab es keine grossen Überraschungen: Die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung blieb unverändert, und im Parlament kam es zu jenen markanten Verschiebungen, die bei fast allen Kantonswahlen seit 2019 festgestellt werden konnten. Ein vertiefender und vergleichender Blick beleuchtet gewisse politische Tendenzen.
Wie schon seit 24 Jahren dümpelte die Beteiligung bei den Berner Kantonswahlen auch 2022 um die dreissig Prozent. Und schon fast Mantra-artig wurde auch 2022 dieser demokratische Missstand beklagt – um dann wieder zur politischen Tagesordnung überzugehen. (Siehe dazu den Link)
Um die sieben Sitze in der Kantonsregierung bewarben sich 18 Kandidatinnen und Kandidaten. Im Wesentlichen aber standen sich zwei Blöcke mit je einer Viererliste gegenüber: die Bürgerlichen und die Rotgrünen. Auf jeder Liste kandidierten drei Bisherige und eine neue Person. Bei den Bürgerlichen war dies die «Mitte»-Lokalpolitikerin und ehemalige BDP-Generalsekretärin Astrid Bärtschi, bei Rotgrün der Bieler Stadtpräsident und gemässigte Sozialdemokrat Erich Fehr.
SP-Mann Fehr scheitert
Die grosse Aufmerksamkeit richtete sich also auf den Kampf um den frei gewordenen siebten Sitz in der Regierung. Dieser musste nach dem Rücktritt der BDP-Politikerin Beatrice Simon neu besetzt werden. Insofern die Bürgerlichen im Kanton Bern klar stärker sind als Rotgrün, hatte Rotgrün nur eine Chance auf den Sitzgewinn – und damit auf die rotgrüne Wende –, wenn es ihnen gelingen würde, einerseits Erich Fehr voll ins rotgrüne Wahlticket zu integrieren und andrerseits ihre Wählenden besser zu mobilisieren als die Bürgerlichen.
Dies gelang nicht. Erich Fehr fiel auf dem rotgrünen Ticket ab: Er lag mit 38 Prozent Stimmen deutlich hinter der Grünen Christine Häsler (52 Prozent), der Sozialdemokratin Evi Allemann (50 Prozent) und dem Sozialdemokraten Christoph Ammann, der mit 53 Prozent das beste Ergebnis aller Kandidierenden erzielte.
«Mitte»-Frau Bärtschi setzt sich durch
Dagegen funktioniere das bürgerliche Viererticket optimal: Astrid Bärtschi wurde nicht nur im Ticket mitgenommen, sie überholte sogar mit 48 Prozent den langjährigen SVP-Regierungsrat Christoph Neuhaus (45 Prozent), der sein schlechtestes Ergebnis seit 2014 verbuchte. Die beiden rechten Hardliner in der Regierung vermochten sich gegenüber den letzten Wahlen zu verbessern: Der Freisinnige Philipp Müller steigerte seine Stimmenzahl um sieben Prozentpunkte auf 53 Prozent, der SVP-Vertreter aus dem Südjura, Pierre Alain Schnegg, um sechs Punkte auf 51 Prozent. Bei den Wahlen 2018 stand Schnegg noch in der Kritik von Rotgrün wegen seiner Spar- und Sozialabbaupolitik («Schnegg muss weg») und wurde mit dem schlechtesten Ergebnis gewählt. Diesmal gab Rotgrün angesichts der guten Noten, die Pierre Alain Schnegg wegen seiner Corona-Politik erhalten hatte, forfait.
Der im Ausmass von zehn Prozentpunkten überraschende Sieg von Astrid Bärtschi über Erich Fehr zeigte sich in fast allen der zehn Zählkreise: Fehr war nur gerade in seiner Hochburg Biel klar stärker (+14 Prozentpunkte). In Bern Mittelland und im Südjura vermochte er Bärtschi nur gerade um je einen Prozentpunkt zu distanzieren. Ansonsten lag Bärtschi überall um 17 bis 44 Prozentpunkte vor Fehr, selbst im Seeland.
Bürgerliche Regierung bleibt
In der siebenköpfigen Regierung bleibt die bürgerliche Mehrheit also bestehen. Die SP war mit ihrer Strategie, die Mehrheitsverhältnisse zu Gunsten einer rotgrünen Mehrheit zu ändern, klar gescheitert. Damit gibt es in der Schweiz nur noch im Kanton Genf eine rotgrüne Mehrheit. 2019 waren es noch drei Kantone (BS, VD, NE). Der jüngste Verlust der rotgrünen Mehrheit in der Waadt, welche zehn Jahre lang Bestand hatte, ist auf ein ähnliches Phänomen zurückzuführen wie die Bestätigung der bürgerlichen Mehrheit im Kanton Bern: Auch in der Waadt funktionierte das bürgerliche Ticket, das erstmals auch die SVP umfasste. Die politisch relativ unerfahrene «Mitte»-Kandidatin Valérie Dittli schaffte den Sprung in die Regierung, genauso wie in Bern Astrid Bärtschi.
Harzige Zusammenarbeit SP-Grüne
Darüber zu räsonieren, ob es für Rotgrün mit einer anderen Kandidatur geklappt hätte, ist müssig. Wenn die Bürgerlichen derart kompakt zu mobilisieren vermögen, wie sie es bei diesen Wahlen taten, hat Rotgrün kaum eine Chance. Sicher Gedanken machen aber darf sich die SP über die Art, wie sie bei der Bestimmung der Kandidaturen ihr Powerplay gegenüber den Grünen aufgezogen hat. Vorerst machte sie gegenüber den Grünen geltend, sie wolle den Jurasitz von Pierre Alain Schnegg angreifen, und wies die Grünen an, sich zurückzuhalten. Darauf änderte sie kurzerhand ihre Strategie und präsentierte quasi als Deus ex machina Erich Fehr, wobei sie die Grünen erneut unter Druck setzte, keine Kandidatin für den Jurasitz aufzustellen. Nach diesen Wahlen dürfte es den meisten Beteiligten klar geworden sein, dass es in Zukunft sinnvoller sein wird, wenn SP und Grüne auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und gemeinsam Strategien festlegen.
Grüne Welle und SP-Absturz
Anders als bei den Regierungswahlen kam es bei den Berner Grossratswahlen zu deutlichen Verschiebungen. Diese waren bereits bei den Nationalratswahlen 2019 und bei fast allen kantonalen Wahlen der letzten beiden Jahre festzustellen: Grüne und Grünliberale legten deutlich zu (in Bern je +5 Mandate), die SP verlor ebenso deutlich (-6).
Mit zwanzig Mandaten sind die Grünen im Grossen Rat nun stärker als die FDP und präsentieren sich als drittstärkste Kraft. Die Grünliberalen belegen mit 16 Mandaten Platz fünf. Nach ihren starken Verlusten ist die SP mit 32 Mandaten zwar weiterhin die zweitstärkste Partei, sie ist aber noch etwas schwächer als 2014, als sie mit 33 Mandaten ihr schlechtestes Ergebnis erzielt hatte.
Geschwächte Bürgerliche
Je zwei Mandate verloren SVP und FDP. Die SVP bleibt mit 44 Mandaten weiterhin stärkste Partei. Die FDP rutschte dagegen mit 18 Mandaten hinter die Grünen auf Platz vier ab. Mit Interesse wurde das Abschneiden der neuen Partei «Die Mitte» verfolgt: Diese vermochte nicht nur ihr Mandat in der Regierung zu halten, sondern auch fast alle Sitze im Grossen Rat (-1 auf 12).
Nachdem alle drei bürgerlichen Parteien Mandate verloren haben, kommen sie nur noch mit Hilfe der kleinen Rechtspartei EDU auf die Hälfte aller Sitze im Grossen Rat. So schwach war das bürgerliche Lager noch nie. Dieser Trend der Verluste der drei bürgerlichen Parteien zeigte sich bei fast allen kantonalen Wahlen seit 2019. Per saldo profitiert haben von diesen Verlusten vor allem die Grünliberalen.
Rotgrüne Stadt, bürgerliches Land
Ein Blick auf das Wahlverhalten in den einzelnen Wahlkreisen zeigt ein Kontinuum zwischen dem rechtsbürgerlichen Oberland und der rotgrünen Stadt Bern. Im Oberland wählten 58 Prozent bürgerlich oder EDU und nur gerade 19 Prozent Rotgrün. In der Stadt Bern dagegen vermochte Rotgrün zusammen mit den Alternativen 60 Prozent der Wählenden für sich zu gewinnen, während dies den Bürgerlichen nur zu 22 Prozent gelang. In den übrigen Wahlkreisen schwankte der Stimmenanteil der Bürgerlichen und Rechten zwischen 41 und 55 Prozent, jener von Rotgrün zwischen 24 und 33 Prozent. Die beiden Parteien GLP und EVP, welche gewissermassen die Mitte markieren, wurden in sämtlichen Wahlkreisen – ausser im Berner Jura (6 Prozent) – von 13 bis 18 Prozent gewählt.
Markieren die jüngsten Wahlen eine Trendwende?
Seit den Nationalratswahlen 2019 wurden die zum Teil markanten Verluste der SP durch Gewinne der Grünen mehr als kompensiert, sodass Rotgrün insgesamt gestärkt aus den Wahlen hervorging. Dies war bei elf kantonalen Wahlen der Fall, nur in Neuenburg war die Bilanz leicht negativ (SP: -3,9 Punkte; Grüne: + 3,4 Punkte). Im laufenden Jahr fanden vier kantonale Wahlen statt (OW, NW, VD, BE). Gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Statistik, welches die Mischlisten den Parteien zuordnet, verloren SP und Grüne in den beiden Innerschweizer Kantonen (wobei die Grünen in Obwalden gar nicht zur Wahl antraten). Während diese beiden Kantone kaum als Trendsetter der Veränderungen der Schweizer Parteienlandschaft gelten können, haben die Kantone Waadt und Bern doch ein gewisses Gewicht. In der Waadt und in Bern betrugen die Verluste der SP rund 3,3 Prozentpunkte, die Grünen steigerten sich jedoch nur um 1,5 bzw. 2,5 Prozent, womit die SP-Verluste nicht kompensiert wurden. Ob dies aber schon eine Trendwende im Wandel der Parteienlandschaft darstellt, werden erst die kommenden Wahlen zeigen.
Vormarsch der Frauen hält an
Nachdem mit der Wahl der «Mitte»-Frau Astrid Bärtschi in die Kantonsregierung der Frauenanteil gehalten werden konnte (3 von 7, bzw. 43 Prozent), stieg die Frauenvertretung im Kantonsparlament weiter an (+4 Prozentpunkte). Mit 39 Prozent erreichte sie im Berner Kantonsparlament ihren bisherigen Höchststand. Dabei lassen sich bekannte Unterschiede nach Parteien feststellen. Am höchsten ist der Frauenanteil mit 66 Prozent bei der SP, gefolgt von den Grünen (47 Prozent) und der EVP (44 Prozent). Knapp einen Drittel machen die Frauen unter den Gewählten der Grünliberalen und der «Mitte» aus, bei der FDP beträgt der Frauenanteil 28 Prozent und bei der SVP 23 Prozent.
Feminisierte SP
Im Vergleich zu den Wahlen 2018 ist der Frauenanteil bei sämtlichen grossen Parteien angestiegen, am stärksten bei SP und FDP (+8 Punkte). Selbst bei der SVP ist der Frauenanteil grösser geworden (+1 Punkt), dies wegen der per Saldo-Abwahl von zwei Männern.
Dem massiven Vormarsch der Frauen bei der SP liegen per Saldo fünf abgewählte Männer und eine abgewählte Frau zu Grunde. Die SP trat in fast allen Wahlkreisen mit geschlechtergetrennten Wahllisten an. In drei Wahlkreisen wurden paritätisch je eine Frau und ein Mann gewählt (Emmental, Oberaargau, Berner Jura). In den anderen schnitten die Frauen deutlich besser ab als die Männer, vor allem in den urbanen Wahlkreisen Bern (5:2) und Biel-Seeland (4:2).