Laut einer Umfrage des Swg-Instituts für die italienische Fernsehstation RAI 3 ist das Mitte-Rechts-Bündnis von Silvio Berlusconi wieder die stärkste politische Kraft im Land. Sie würde heute 32,2 Prozent der Stimmen erreichen. Die Links-Allianz kommt auf 29,6 Prozent.
Italien zelebriert wieder einmal ein Trauerspiel. Doch das kümmert die Italiener wenig. „Wann denn“, sagt uns ein Römer Journalist, „boten wir kein Trauerspiel?“ Zynisch fügt er bei: „Wir liegen voll auf der traditionellen Linie. Was regt sich das Ausland so auf?“
Ein Ende der politischen Krise ist nicht in Sicht. Die Wahlen im Februar hatten keinem Bündnis eine regierungsfähige Mehrheit gebracht. Die Fronten sind verhärtet. Es ist nicht absehbar, dass zwei Blöcke plötzlich zusammenfinden und eine regierungstaugliche Mehrheit bilden. Zwar erklärte sich der sozialdemokratische Linken-Führer Pier Luigi Bersani am Dienstagabend erstmals bereit, Berlusconi zu treffen. Doch bringt das längerfristig etwas?
Staatspräsident Giorgio Napolitano ist verbittert über die politischen Parteien. Am Dienstag hat er zwei Expertengruppen eingesetzt, die einen Ausweg aus dem Patt suchen sollten.
"Rat der Weisen - eine Zeitverschwendung"
Vier sogenannte überparteiliche „Weise“ sollen Möglichkeiten einer Wahlrechtsreform ausloten. Mit einer Neugestaltung des Wahlgesetzes soll verhindert werden, dass nach künftigen Wahlen Patt-Situationen wie die jetzige entstehen.
Sechs andere „Weise“ sollen Vorschläge zur Lösung der brennendsten wirtschaftlichen und sozialen Probleme ausarbeiten. Bei den Experten handelt es sich um Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Justiz und Politik. Eine Frau ist nicht dabei, was Napolitano harsche Kritik eingetragen hat.
Der „Rat der Weisen“ hat acht bis zehn Tage Zeit, um Lösungen vorzubringen. Berlusconi nennt die ganze Übung „eine Zeitverschwendung“ – und da hat er vielleicht nicht ganz Unrecht. Jahrelang rangen die italienischen Parteien um Lösungen. Wie soll es zehn Experten gelingen, innerhalb von zehn Tagen die tief zerstrittenen Parteien auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen?
Jeder Zweite will Neuwahlen
In Italien Prognosen zu stellen, ist müssig. Was morgen ist, ist übermorgen anders. Doch heute deutet vieles darauf hin, dass es im Sommer Neuwahlen geben wird. Laut der jüngsten Swg-Umfrage will jeder zweite Italiener schnelle Neuwahlen. Und das ist genau das, worauf Berlusconi hingearbeitet hat. Sein Hauptziel war es, der Linken den Sieg zu vermasseln. Das ist ihm gelungen.
Blenden wir zurück: Es war am 24. Oktober letzten Jahres. Berlusconi verschanzte sich in seiner Villa Grazioli in der Römer Via del Plebiscito. Besucher empfing er keine, auch keine Besucherinnen. „Es geht ihm schlecht, sehr schlecht“, sagte sein Freund Marcello dell’Utri. Berlusconi hatte sich eben aus der Politik verabschiedet. Die Zeitungen berichteten in grossen Lettern darüber. Fast überall war ein Aufatmen zu spüren. Der politische Alpha-Rüde war gescheitert: ausgebrannt und ausgelacht. Hoffnungslos lag sein Bündnis hinter der Linken zurück.
Diese Linke von Pier Luigi Bersani war laut Meinungsumfragen auf knapp 40 Prozent der Stimmen gekommen. Für Berlusconi wurden 16 Prozent errechnet. Ein Vorsprung, der uneinholbar schien.
Die Rache des alten Herrn
Dann wurde Berlusconi „von einer Wespe gestochen“, wie die Italiener sagen. Noch einmal stand er auf, setzte alles auf eine Karte: seine Ehre, sein Prestige – und viel, viel Geld. Er hatte nur ein Ziel: Der Linken, „diesen Kommunisten“, den Sieg zu stehlen.
Wie weit ihm die Ideologie wichtig war, bleibe dahingestellt. Vor allem ging es ihm um seine Ehre. Im November 2011 wurde er als Ministerpräsident davongejagt und gedemütigt. Selbst Angela Merkel und Nicolas Sarkozy lachten ihn an einer Medienkonferenz vor laufenden Kameras aus. Doch einer wie er lässt sich nicht auslachen, einer, der immer alles hatte und alles kriegen konnte. So raffte er sich nochmals auf, schwor Rache – und gewann.
Bei den Wahlen im Februar gewann die Linke zwar eine hauchdünne Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Doch im gleichberechtigten Senat scheiterte sie. Und wer keine Mehrheit in beiden Häusern hat, kann nicht regieren.
Bittere Pille für die Linke
Berlusconi hatte die erste Etappe seines Kampfes gewonnen. Jetzt folgt die zweite Etappe: Neuwahlen im Sommer. Jetzt kann er triumphieren: „Seht, die Linke bringt keine regierungsfähige Mehrheit zusammen, die Linke taugt zu nichts.“ Also: „Wählt Berlusconi!“
Tatsächlich ist die Neubelebung des schon totgesagten Berlusconi eine bittere Pille für die Linke. Und vor allem für ihren Führer Pier Luigi Bersani. Im letzten Herbst wurde er rund um die Welt als neuer Ministerpräsident gehandelt. Jetzt hat er fast alles verloren. Es gelang ihm letzte Woche nicht, eine Regierung zu bilden. Zudem wird in seiner Partei der Ruf nach einem neuen Chef seiner Partei immer lauter. Matteo Renzi, der Bürgermeister von Florenz, wartet schon in den Startlöchern.
In den jüngsten Meinungsumfragen hat die Linke zwar um eine Spur zugelegt. Doch das Entscheidende ist: Sie wurde von Berlusconi überholt.
Monti, einst mit Lorbeer bekränzt
Eine riesige Genugtuung für Berlusconi ist auch das Scheitern von Mario Monti. Er, der Wirtschaftsprofessor, ist immer noch Ministerpräsident - einzig allerdings deshalb, weil man noch keinen neuen gefunden hat. Nach dem Sturz von Berlusconi war Monti in Italien und im Ausland als Heilsbringer gefeiert und mit Lorbeeren bekränzt worden. Diese weltweite Verehrung lastete schwer auf dem Ego des siegesgewohnten Berlusconi.
Doch Monti enttäuschte. Ausser Steuer- und Preiserhöhungen ist ihm nichts gelungen. Bei den Wahlen im Februar erzielte sein Bündnis zehn Prozent. Giulio Tremonti, der Wirtschaftsminister von Berlusconi, twitterte: „Ein Traum ist in Erfüllung gegangen: Monti unter zehn Prozent.“
Berlusconi wartet ab: Die Zeit scheint für ihn zu arbeiten. Das Gerangel um eine neue Regierung tritt im Moment in den Hintergrund – zumindest für zwei, drei Wochen.
Jetzt beginnt die heisse Phase des Kampfes um das Staatspräsidium. Schon fliegen die Fetzen.
Berlusconi als Staatspräsident?
Giorgio Napolitano, der 87-jährige Staatspräsident, tritt Ende Mai zurück. Er, ein ehemaliger Kommunist, hat sich in seiner siebenjährigen Amtszeit eine gewaltige Reputation erarbeitet. Kaum ein Italiener wird so geschätzt und geachtet wie er. Der Staatspräsident ist in Italien vor allem eine moralische Instanz, die in Zeiten der Krise eine wichtige Rolle spielen kann.
In zwei Wochen beginnt die Wahl von Napolitanos Nachfolger. Berlusconi beharrt darauf, dass dies ein Vertreter seiner Partei sein müsse. Forsch bringt er sich selbst ins Spiel: „Entweder werde ich Staatspräsident oder mein Freund Gianni Letta.“ Später nennt er auch den 70-jährigen Parteifreund, Professor, Philosophen und einstigen Senatspräsidenten Marcello Pera.
Da der Staatspräsident in den ersten drei Wahlgängen mit einer Zwei-Drittels-Mehrheit und in den späteren Durchgängen mit dem absoluten Mehr gewählt werden muss, ist kaum anzunehmen, dass Berlusconi Staatspräsident wird. Die Linke, die in der grossen Kammer die absolute Mehrheit besitzt, wird kaum ihren Lieblingsfeind auf den höchsten Thron des Landes hissen.
Die Linke hat bereits Romano Prodi, den früheren EU-Kommissar, ins Spiel gebracht. Doch gerade bei der Wahl von Staatspräsidenten ist Italien für Überraschungen immer gut.
Personalwechsel bei der Rechten und der Linken?
Wer auch Staatspräsident wird: Eine seiner ersten Amtshandlungen könnte die Festsetzung von Neuwahlen sein. Und dann?
Wird das Berlusconi-Lager seine jetzige Führungsposition behaupten können? In diesem Fall wird sich wohl in Italien wenig Grundlegendes ändern. Oder wird Berlusconi sich langsam zurückziehen? Wird sich die Rechte grundlegend erneuern? Niemand weiss es.
Oder wird die Linke Pier Luigi Bersani, ihren bisherigen Chef, auswechseln? Laut Meinungsumfragen geniesst Matteo Renzi, der 38-jährige Bürgermeister von Florenz bei 66 Prozent der Italiener Vertrauen – ein Spitzenwert. Wird die Linke mit ihm dann die Wahlen auch im Senat gewinnen? Renzi wird vorgeworfen, ein allzu rechts stehender Sozialdemokrat zu sein. Das trägt ihm bei der Rechten einen Spitzenwert von 71 Prozent ein.
Und Beppe Grillo? Seine Bewegung „5 Sterne“ hatte im Februar ein phantastisches Ergebnis erzielt. Doch vielleicht ist ihr Höhenflug schon zu Ende. Sie hat im Vergleich zum Wahlergebnis bereits 2,1 Prozent verloren und kommt jetzt noch auf 24,8 Prozent. Noch immer ein stolzer Wert.
Grillo - noch nichts erreicht
Doch die Schreier-Partei hat noch kaum etwas bewirkt. Dass ein Viertel der Italiener zu ihr hält, mag verständlich sein, denn sowohl die Rechte wie die Linke haben Italien in den letzten Jahrzehnten in den Ruin und in die grassierende Korruption getrieben.
Es gibt Anzeichen dafür, dass sowohl die Rechte wie auch die Linke die „5 Sterne“ aussitzen wollen. Ihre nicht unberechtigte Hoffnung ist: Die werden sich schon selbst in die Quere kommen und sich selbst neutralisieren.
Im Moment sagt Grillo zu allem Nein, Nein, Nein. Seine Parlamentarier „hält er im Kühlschrank“, wie die Zeitung „La Repubblica“ am Dienstag schreibt. Offenbar fürchtet er sich, dass er die Kontrolle über sie verliert und die Grillen allzu laut zirpen.
In Italien ist alles möglich: Unterstützung erhielt Grillo jetzt ausgerechnet von unerwarteter Seite: vom ewigen Kommunisten Fausto Bertinotti und seiner „Rifondazione Comunista“. Er forderte Staatspräsident Napolitano auf, Grillo mit der Regierungsbildung zu beauftragen.
Grillo ist in einer schwierigen Lage: Sagt er „Nein, Nein, Nein“ bewirkt er gar nichts. Bietet er Hand zu Kompromissen mit den verhassten Politikern, verliert er seine Anti-Politik-Legitimation. Offenbar weiss er selbst nicht so recht weiter. Wird sich die Erfahrung bestätigen, dass Protestbewegungen ein Verfalldatum haben?
Im Moment üben sich die fünf Sterne in Bürgernähe à la Französische Revolution. Alle sind gleich, alle sind „Bürger“ (Cittadini). Doch Vito Crimi, der Fraktionschef der „5 Sterne“ im Senat gestattete sich einen schrecklichen Lapsus. Er nannte an einer Pressekonferenz – wie in Italien üblich – die Abgeordnete Lombardi „Onorevole Lombardi“ (Hochverehrte Frau Lombardi). Vor laufender Kameras wurde er von der 5-Sterne-Fraktionschefin in der Abgeordnetenkammer gemassregelt: „Es heisst: Cittadina Lombardi“ – Bürgerin Lombardi. Der Zurechtgewiesene lächelte.