In einem hat Berlusconi recht. All die Informationen, die jetzt in die Öffentlichkeit sprudeln, wären eigentlich vertraulich. Protokolle von Zeugen-Einvernahmen gehören auch in Italien nicht in die Zeitungen. Ebenso wenig Mitschnitte von Telefongesprächen zwischen Berlusconi und seinen jungen Frauen. Doch die Richter rächen sich. Zehn Jahre lang hat sie Berlusconi als „Kommunisten“ und „Minderbemittelte“ tituliert, als „debil“ und „krank“. Jetzt kommt der Bumerang.
Natürlich haben die Informationen etwas Voyeuristisches. Doch nicht nur. Sie geben einen tiefen Einblick in das Wesen des italienischen Regierungschefs. Sie zeigen auf, welch schwache Person an der Spitze dieser wichtigen europäischen Nation steht.
Berlusconi brüstet sich seit jeher mit seinen Frauengeschichten. „Ich liebe das Leben und die Frauen“, sagt er immer wieder. Man kennt die Namen seiner Angebeteten: Noemi und Barbara, Lilli und Patricia, Nicole und Imma, Nadia und Iris – und all die andern. Doch eine möchte Berlusconi vergessen. Und vergessen möchte er auch die Nacht vom 27. auf den 28. Mai letzten Jahres. Was damals geschah, könnte ihm jetzt den Kopf kosten.
Schon mit 14 verdrehte sie den Männern den Kopf
Es ist etwa 23.00 Uhr. „Fotosegnalamento“ steht über dem kleinen Raum im Polizeiposten in der via Fatebenefratelli 11 in Mailand. Zwei Polizisten sind dabei, eine junge Frau zu fotografieren. Sie wirkt anziehend. Die beiden Polizeibeamten starren sie immer wieder an. Später erfahren sie, dass die Festgenommene schon mit 14 Jahren den sizilianischen Männern den Kopf verdreht hat. Die Polizisten testen das Blitzlicht, es funktioniert.
Blenden wir zurück. Die junge Frau, die hier wartet, um fotografiert zu werden, wurde am 1. November 1992 in Marokko geboren. Die Familie wanderte nach Sizilien aus und liess sich im Quartier Torrente San Filippo im Küstendorf Letojanni nieder. Letojanni hat keine 3‘000 Einwohner und liegt 50 Kilometer südlich von Messina. Der Vater, Muhammed El Marough, heute 56 Jahre alt, ist ein fliegender Händler und verkauft auf den Märkten seine Ware. Seine ältere Tochter, sie heisst Karima, wird später am Fernsehen sagen, sie sei vom Vater und vom Onkel vergewaltigt worden. Karima hat zwei Brüder und eine jüngere Schwester.
Plötzlich erschien sie im Fernsehen
Antonio Lo Turco, Karimas einstiger Französischlehrer lobt sie noch heute: „Sie war ein sehr intelligentes Mädchen mit einer schnellen Auffassungsgabe. Zwar las sie keine Bücher, aber sie begriff immer sehr schnell“. Giovanni Mauro, der Bürgermeister von Letojanni, erzählt: „Sie kam oft zu mir, bat mich um etwas Geld, um Bücher kaufen zu können. Sie brauchte die Euro dann andersweitig“. Viele Männer im Städtchen erinnern sich an sie: „Schon mit 12 war sie wunderschön und sexy“. Die Mutter schickte sie schliesslich von zu Hause weg.
Im April 2008 kam sie dann in das Heim „Glicine“ in Messina, dann nach Giarre bei Catania. Immer wieder fiel sie als Diebin auf.
Dann tauchte sie plötzlich wieder in Letojanni auf. Dort brüstete sie sich, sie würde jetzt im Fernsehen auftreten. Cateno Ruggeri, der Vizebürgermeister von Letojanni, sagt: „Sie erzählte uns, sie würde für Mediaset arbeiten“, das Fernsehimperium von Berlusconi. Später nahm sie in Sant’Alessio Siculo bei Taormina an einem Schönheitswettbewerb teil: „Miss ragazza per il cinema“. Dann fuhr sie nach Genua, wo sie in genieteten Lederkleidern als Nachtklubtänzerin auftrat. Beim Genueser Bahnhof Brignole wurde sie von Polizisten aufgegriffen. Sie hatte 5‘000 Euro auf sich.
Im Schönheitssalon festgenommen
Jetzt wartet sie hier in der via Fratebenefratelli darauf, fotografiert zu werden. Dokumente hat sie keine auf sich. Eine Wohnadresse kann sie nicht angeben. Sie, die minderjährige Marokkanerin, sagt, sie wohne bei einer befreundeten Prosituierten.
Plötzlich hört man laute Stimmen im Korridor. Eine hohe Polizeibeamtin erscheint. „Schliesst alles ab und schickt sie fort“, sagt die Beamtin. Die Polizisten trauen ihren Ohren nicht. Doch die Chefin wiederholt: „Aufhören, wir lassen sie laufen“. Die Polizeibeamten staunen.
Karima, die sich Ruby Rubacuori (Herzensräuberin) oder Ruby Rubabaci (Küsse-Räuberin) nennt, war an diesem Abend um 18.15 Uhr festgenommen worden. Einige Tage zuvor besuchte sie eine Mailänder Diskothek. Dort traf sie, spät in der Nacht, Caterina P. und zwei Freundinnen von Caterina. Die drei kannten Ruby nicht, doch sie kamen ins Gespräch. Schliesslich lud Caterina alle zu sich nach Hause ein. „Ihr könnt bei mir schlafen“.
Am nächsten Morgen geht Caterina mit ihren beiden Freundinnen nach unten in eine Bar, um einen Kaffee zu trinken. Ruby schläft noch tief. So scheint es. Als die drei zurückkommen, ist Ruby nicht mehr da. Caterina entdeckt, dass 3'000 Euro und einige Schmuckstücke fehlen. Caterina verflucht sich selbst.
Dann hilft der Zufall. Am 27. Mai spaziert Caterina P. über den Corso Buenos Aires in Mailand. In einem Schönheitssalon sieht sie – durch das Fenster – Ruby. Über die Nummer 113 ruft Caterina die Polizei. Der Einsatzwagen „Monforte“ ist sofort zur Stelle. Ruby wird festgenommen. Sokhna, die 33jährige senegalesische Betreiberin des Salons, sagt später, Ruby sei jede Woche gekommen, um sich die Fingernägel pflegen zu lassen.
“Wer ist Mubarak?
Jetzt also soll Ruby laufengelassen werden. Die höhere Polizeibeamtin rechtfertigt sich. Berlusconi habe telefoniert und die sofortige Freilassung gefordert. Das Mädchen sei die Nichte von Mubarak.
„Wer ist Mubarak“ fragt einer der Polizisten. Schüchtern sagt die Beamtin: „Der ägyptische Präsident“. Später schreiben die Polizisten ins Protokoll, sie sei die Nichte von „Muborach“.
Doch die Geschichte in der via Fatebenefratelli ist noch nicht zu Ende. Jetzt tritt eine hübsche 25jährige Frau auf. Sie heisst Nicole Minetti und war die Zahnhygienikerin von Berlusconi. Und weil sie ihm die Zähne so sauber putzte, liess er sie in den lombardischen Regionalrat wählen.
Nicole Minetti sagt, sie sei beauftragt worden, Ruby abzuholen. Die Polizisten und die Jugendanwältin wehren sich. Nicole telefoniert nach Rom. Kurz darauf ruft Pietro Ostuni, der Mailänder Polizeichef, an und fordert die sofortige Freilassung Rubys. Es ist zwei Uhr früh. Nicole zieht mit Ruby davon.
Die beiden gehen durch die Mailänder Strassen. Nicole erzählt, dass Berlusconi sie beauftragt habe, Ruby abzuholen. Und Silvio habe gebeten, sie über den Verlauf der Dinge auf dem Laufenden zu halten. Deshalb rufen die beiden jetzt Berlusconi an. Nicole lacht und scherzt mit dem Ministerpräsidenten. Dann reicht sie das Handy Ruby weiter. Diese erzählt später: „Silvio hat mir gesagt: Du bist keine Ägypterin, du bist nicht volljährig, aber ich mag dich trotzdem („ti voglio bene lo stesso“).“ Gesehen hätte sie ihn nicht mehr, doch sie hätten oft telefoniert. Später wurde publik, dass die beiden während 77 Tagen 67 Mal telefoniert haben. Ebenso gab Ruby im Nachinein zu, noch mehrmals in Berlusconis Villa gewesen zu sein.
Weshalb kennt Berlusconi die junge Ruby?
Karima erzählt den Richtern, dass sie im Frühjahr 2009 Emilio Fede kennengelernt habe, und zwar in Sizilien. Fede, ein 79jähriger Mann, ist Direktor von Berlusconis Fernsehkanal TG4. Er ist auch Jury-Präsident eines Schönheitswettbewerbs, an dem Ruby teilgenommen hat.
Fede umschwärmt die junge Ruby und sagt ihr eine grosse Zukunft voraus. Er macht sie mit Lele Mora bekannt, einem mehrmals verurteilten Busenfreund von Berlusconi. Lele könne sie in die grosse Welt des Spektakels einführen. Ruby, das Mädchen aus der Gosse, packt zu. Sie verlässt Sizilien und fährt nach Mailand. Später wird bekannt, dass Fede zusammen mit Nicole Minetti und Lele Mora zu jenem Trio gehört, das Berlusconi junge Frauen beschafft.
Mora trifft Ruby in einer unterirdischen Ethno-Disco-Bar an der Strasse zum Mailänder Flughafen Linate. Ruby erzählt, ihre Mutter hätte sie den Bauchtanz gelehrt.
Am 14. Februar 2010, es ist Valentinstag, betritt Ruby erstmals Berlusconis Villa „San Martino“ in Arcore bei Mailand. Sie ist 17 Jahre und 95 Tage alt. Lele Mora hat sie hier hingeführt. Ruby erzählt später, dass sich etwa zwanzig junge Frauen im Haus befunden hätten: Berühmte Fernsehmoderatorinnen, Stars und Sternchen, eine Prostituierte und zwei Politikerinnen. Sie gibt die Namen den Untersuchungsrichtern bekannt. (Die Berlusconi-kritische Zeitung „La Repubblica“ kennt die Namen, hat sie aber noch nicht veröffentlicht.)
Ruby ist es auch, die erstmals den Ausdruck „bunga bunga“ publik macht. Berlusconi habe ihr erzählt, beim Bunga bunga lade man Gäste ein, und nach dem Nachtessen gebe es eine erotische Nachspeise.
“Niemand wird dich sexuell belästigen. Und so war es“
Ruby erzählte den Untersuchungsrichtern sofort, sie hätte nie Sex mit Berlusconi gehabt. Sie beteuert auch, sie hätte ihn angelogen, sie hätte gesagt, sie sei 24 und nicht 17. Doch Nicole Minetti und Lele Mora hätten ihr richtiges Alter gekannt.
Bei dieser Version bleibt sie bis heute. Journalisten erklärt sie, Berlusconi sei der erste Mann in ihrem Leben gewesen, der sie nicht ins Bett bringen wollte. „Er hat sich wie ein Vater verhalten. Ich schwöre es. Giuro. Er war besser als mein Vater, der mich geschlagen hat. Silvio hat mich mit offenen Armen empfangen, er war nett, süss (dolce), er hat mich beschützt, hat mir etwas Geld geliehen. Er hat mir versprochen, mir bei der Aufenthaltsgenehmigung zu helfen. Was wollte er im Gegenzug? Nichts. Giuro.“
Ruby sagt weiter, um halb drei sei sie wieder zu Hause gewesen – mit einem schwarz-weissen Kleid von Valentino und Kristallen von Swarowski.
Einen Monat später war Ruby erneut in der Villa San Martino zum Nachtessen. Berlusconi nannte es ein „Tricolore-Essen“: Mozzarella, Oliven und Tomaten - die Farben der italienischen Flagge. „Silvio sagte mir, es würde ihm gefallen, wenn ich die Nacht hier verbrächte“. Er beteuerte auch: „Habe keine Bedenken, es wird keine sexuellen Avancen geben, niemand wird dich belästigen“. Und so sei es gewesen.
„Wir assen zusammen und dann nahm ich zum ersten Mal an einem Bunga bunga teil“. Ruby habe diese Zeremonie mit solcher Inbrunst und Hunderten Details erzählt, dass die Untersuchungsrichter staunten. Sie sei die Einzige gewesen, die angekleidet blieb. Silvio habe ihr zu trinken serviert, ein Sanbitter. „Er war der einzige Mann hier. Dann nahmen alle ein Bad im gedeckten Schwimmbecken. Silvio hat mir ein Bikini besorgt.“ Einige der jungen Frauen hätten mit dem Handy fotografiert. Nach dem Essen habe Berlusconi die Angebeteten im 10 Minuten-Takt in einem Separée empfangen.
Auch George Clooney war da
Dann fuhr sie ein drittes Mal hin. „Es war ein ruhiges Abendessen. Silvio erzählte mir, er hätte mich als Nichte von Mubarak ausgegeben“. Am Tisch – so sagte Ruby – befanden sich George Clooney und seine Freundin Elisabetta Canalis.
Ruby zeigt den Richtern die Geschenke, die sie von Berlusconi erhalten habe: Goldene Kreuze, Ohrringe, Halsketten, Uhren mit Brillanten (Rolex, Bulgari, Dolce&Gabbana), aber auch einen Audi und viel Haute couture – vieles verpackt mit der Aufschrift „Menomale che Silvio c’è“ – ein Kampfsong von Berlusconis Partei (Link: siehe unten). Ruby betont, sie hätte von Berlusconi innerhalb von drei Monaten 150 000 Euro in bar bekommen. Er habe ihr auch versprochen, ein Fitnesszentrum zu kaufen. Und: „Ich soll doch sagen, dass ich die Nichte von Mubarak bin“.
Zuerst sagte Ruby, sie sei drei Mal in Arcore gewesen. Inzwischen gibt sie schon acht Mal zu. Auch die Geldbeträge, die sie erhalten haben soll, werden immer höher. Einmal sagt sie, Berlusconi habe ihr eine Wohnung im Norden von Mailand gemietet. Sky TV sagte sie offen, sie hätte 7'000 Euro erhalten, 2'000 mehr als die Edelprostituierte Nadia Macri. Und ob Ruby 5 Millionen Euro Schweigegeld verlangt habe, bestätigt sie einmal und dementiert es ein andermal.
Die Aussagen, die Ruby gegenüber den Untersuchungsbehörden machte, decken sich weitgehend mit den Aussagen vieler anderer jungen Frauen. Ob sie sich jedoch so sittsam verhielt, wie sie behauptet, wird von andern bestritten.
Die Zeitung „La Repubblica“ charakterisiert Ruby so: Sie spricht viel, fabuliert, ist theatralisch, vermischt Wahrheit mit Erfindung, hat einen starken Charakter, ist selbstsicher, ist eine Intrigantin – und weiss zu gefallen.