Vordergründig ging es am Dienstagnachmittag bei der Abstimmung in der Abgeordnetenkammer um den Rechenschaftsbericht. Doch es ging um viel mehr. Es ging darum, ob Berlusconi gestürzt werden soll oder nicht. Der Rechenschaftsbericht wurde zwar angenommen, doch das ist unwesentlich. Wesentlich ist, dass Berlusconi die Mehrheit in der Grossen Kammer verloren hat.
Die Opposition enthielt sich der Stimme, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sie torpediere in diesen schwierigen Zeiten die Haushaltspolitik.
316 Stimmen hätte Berlusconi gebraucht, um weiter den Anschein seiner Regierungsfähigkeit zu bewahren. Soviel beträgt das absolute Mehr in der Abgeordnetenkammer. Er erreichte 308 Stimmen.
Acht Mitglieder seiner Partei haben nicht für ihn gestimmt. "Sie haben mich betrogen", war der erste Kommentar Berlusconis.
Von Freunden verlassen
Selbst viele seiner treuen Parteifreunde haben ihn verlassen. Sogar Umberto Bossi, der Chef der Lega Nord. Er, der mit Berlusconi eine Koalition bildet, hat ihm bis gestern die Stange gehalten. Am Dienstagmorgen sagte er: „Ich will einen neuen Ministerpräsidenten, ich will Angelino Alfano, den Parteivorsitzenden von Berlusconis PDL-Lager“. Da war das Schicksal des Cavaliere besiegelt. Auch sein enger Freund Gianni Letta hat ihn abgeschrieben. „Unter diesen Bedingungen kannst du nicht weitermachen“, sagte Letta.
Nach der Abstimmung begab sich Berlusconi in den Quirinal und sprach 45 Minuten lang mit Staatspräsident Giorgio Napolitano. Der Staatspräsident ist es, der unter solchen Umständen über das weitere Vorgehen entscheidet. Soll eine neue Mitte-rechts-Regierung ohne Berlusconi gebildet werden? Soll es eine grosse Koalition unter Einbezug aller wichtigen Strömungen geben? Sollen Neuwahlen angesetzt werden?
Rücktritt, aber...
Berlusconi erklärte dem Staatspräsidenten, er werde zurücktreten. Aber erst, wenn das Reform- und Sparpaket unter Dach und Fach sei. Dies soll zwar schon nächste Woche geschehen. Doch ist das realistisch?
Italien braucht dringend tiefgreifende und schmerzhafte Strukturreformen. Nur so kann das riesige Haushaltdefizit abgebaut werden. Seit Anfang Jahr werkelt Berlusconi an Reformen, ohne dass sich eine klare Linie abzeichnet. Die Regierung ist zerstritten, selbst in Berlusconis Partei klaffen die Vorstellungen auseinander. Und da die Reformen allen Opfer abverlangen, könnte sich die Annahme der Sparpläne verzögern.
Und sollte er ein Sparpaket wirklich durchs Parlament bringen, könnte er das als persönlichen Sieg und Vertrauensbeweis verbuchen - und Ministerpräsident bleiben.
Spiel auf Zeit?
Wie oft hat Berlusconi alle an der Nase herumgeführt. Deshalb besteht auch jetzt da und dort die Befürchtung, dass er es diesmal wieder tut und auf Zeit spielt. Es fällt schwer zu glauben, dass der Kämpfer Berlusconi jetzt einfach die Waffen streckt. Die Börse jedenfalls ist nicht euphorisch. Die Kurse fielen nach Berlusconis Ankündigung um zwei Prozent.
Die Märkte haben längst das Vertrauen in ihn verloren. Für einen Wirtschaftsmann wie ihn müssen die letzten Stunden schrecklich gewesen sein. Je mehr sich die Gerüchte um seinen Sturz verdichteten, desto besser ging es der Börse. Und als er dann doch blieb, sackten die Kurse wieder ab.
Die Wirtschaft war sich längst einig: Silvio Berlusconi ist allzu diskreditiert und angeschlagen. Mit ihm und seiner zerstrittenen Regierung ist eine wirtschaftliche Erholung nicht mehr möglich.
Übergangsregierung? Neuwahlen?
Staatspräsident Giorgio Napolitano hat nach einem Abgang des Ministerpräsidenten die Möglichkeit, eine Übergangsregierung ohne Berlusconi einzusetzen – oder Neuwahlen auszuschreiben.
Niemand soll erwarten, dass ohne Berlusconi schnell alles besser würde. Italien war schon vor Berlusconi ein angeschlagenes Land. Die Überregulierung, die groteske Bürokratie, die tiefsitzende Mentalität, den Staat zu betrügen, das Zuschanzen von Posten, die mafiaähnlichen Mauscheleien in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – all das gab es schon vor Berlusconi.
Berlusconi hat die politische Kultur in Italien mit Füssen getreten. Wie keiner vor ihm hat er polarisiert, polemisiert und beleidigt. Seine Gegner überhäufte er mit übelsten Schimpftiraden. Wer nicht für ihn war, wurde in die Hölle verbannt. Eine demokratische Suche nach Lösungen fand nie statt. Ein Brückenbauer war Berlusconi wahrlich nicht. Die Wunden, die er aufgerissen hat, gilt es jetzt zu pflegen. Das wird nicht einfach sein.
Nichts erreicht
Fast 18 Jahre lang ist Berlusconi in der Politik. 3292 Tage lang hat er regiert (Stand: 8. November 2011), so lange wie kein Ministerpräsident seit dem Zweiten Weltkrieg. Wie kein anderer hätte er Zeit gehabt, das Land zu prägen, etwas zu erreichen, Reformen durchzusetzen. 18 Jahre lang versprach er Reformen und hat nichts erreicht. Das Land ist tief verschuldet, die Armut wächst, die Wirtschaft lahmt.
Und jetzt plötzlich nach fast 18 Jahren soll es ihm gelingen, in kurzer Zeit wichtige Reformen durchzusetzen? Es fällt schwer, an einen Erfolg zu glauben.
Seit Jahren wird in Italien nicht mehr wirklich regiert. Alles drehte sich nur noch um Berlusconi, um seine Prozesse und seine Affären. Regierung und Parlament befassten sich fast nur noch mit Gesetzen, um Berlusconi Straffreiheit zu ermöglichen. Es ging immer zuerst um ihn und in zweiter Linie um sein Land. „Italien ist ihm doch völlig egal“, sagt ein Mailänder Politologe.
Am Schluss muss er auch für den Spott nicht mehr sorgen. Im italienischen Parlament wurde am Dienstag eine Werbebroschüre der Fluggesellschaft Ryanair verteilt. Darauf sieht man, wie Berlusconi einen Reisekatalog in den Händen hält. Darauf sind einige halbnackte Frauen an einem fernen Strand zu sehen. Der Text dazu lautet: Lieber Silvio, eine weitere Gelegenheit, mit Ryanair abzuhauen. Hinflug: 9 Euro 99.