Seine Anhänger schwenken blaue Fahnen und singen die Nationalhymne. Berlusconi streckt die geballte Faust in die Höhe. Der Mailänder Professor Marco Belpoliti verglich einmal die Gesten Berlusconis mit jenen von Mussolini.
Berlusconis Einschätzung seiner Wahlchancen hat wohl wenig mit der Realität zu tun. Seine Worte sind vor allem da, um seinen Anhängern Mut zu machen und sie zu mobilisieren.
Dass Berlusconi die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer erzielt – daran glaubt kaum jemand. Doch möglich ist, dass er genügend Stimmen erhält, um den italienischen Politbetrieb schwer zu belasten oder gar lahmzulegen.
20‘000 auf dem Mailänder Domplatz
Meinungsumfragen dürfen in Italien zwei Wochen vor den Wahlen nicht mehr veröffentlicht werden. Doch sicher ist: Der linke Partito Democratico (PD) von Pierluigi Bersani ist zurzeit die stärkste italienische Formation. Bersani, der einen sozialdemokratischen Kurs steuert, gilt im Ausland als Langweiler, doch er ist einer der wenigen integren Figuren der italienischen Politik.
Die chronisch zerstrittene Linke gibt sich vor diesen Wahlen überraschend einig. Über 20‘000 ihrer Anhänger hatten sich am Sonntagabend auf dem Mailänder Domplatz versammelt. Die linken Top-Politiker, die sich bei den jüngsten Primärwahlen noch heftig bekämpft hatten, traten vereint vor die jubelnde Anhängerschaft. Dabei war auch Romano Prodi, der frühere Präsident der EU-Kommission und zweimaliger Ministerpräsident. Er sprach sich für eine Allianz der Linken mit dem scheidenden Ministerpräsidenten Mario Monti und seiner Zentrumsformation aus.
Die Meinungsumfragen geben der Linken zwischen 30 und 35 Prozent der Stimmen. Das ist wohl genug, um die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer zu erreichen, aber nicht genug, um im Senat zu dominieren. Deshalb ist die Linke auf einen Koalitionspartner angewiesen.
Mario Monti, „das Professörchen“
Einen solchen glaubte sie, in Mario Montis Bürgerblock gefunden zu haben. Zusammen, so das linke Kalkül, würde man auch im Senat eine Mehrheit erreichen. Monti würde dann in einer linken Regierung einen Ministerposten erhalten, zum Beispiel jener des Aussenministers. Doch das ist längst nicht mehr sicher.
Denn Mario Monti schwächelt; er hat viele enttäuscht. Seine Kampagne kam alles andere als in Fahrt. Plötzlich verlor er einen grossen Teil seiner Glaubwürdigkeit, als er – zum Beispiel in der Steuerpolitik – zurückkrebste und Berlusconi groteske Konzessionen machte.
Monti erhielt zwar in den letzten Tagen Unterstützung von höchsten Seiten. Am Samstag wurde er im Vatikan vom scheidenden Papst herzlich empfangen. Und am Freitag wurde dem italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano in Washington ein langer roter Teppich ausgerollt. Beide sprachen sich offen sehr lobend über die 13-monatige Amtszeit von Mario Monti aus.
Profitiert Monti überhaupt von dieser Parteinahme? Vielleicht ein wenig, doch wohl nicht entscheidend. Berlusconi nennt Monti jetzt „ein Professörchen, das nichts von Wirtschaft versteht“. Beobachter in Rom schliessen nicht aus, dass Monti höchstens auf 10 bis 12 Prozent der Stimmen kommt.
Berlusconi, der Spielverderber?
In einem solchen Fall würde wohl die Linke zusammen mit dem Zentrum keine Mehrheit im Senat erzielen. Doch um wirkungsvoll regieren zu können, muss eine Formation beide gleichberechtigten Kammern dominieren: die Abgeordnetenkammer und den Senat. Gesetze müssen von beiden Kammern angenommen werden.
Kann also Berlusconi zum grossen Spielverderber werden? Gewinnt er eine Mehrheit im Senat, könnte er Gesetze, die gegen ihn gerichtet wären, blockieren.
Wenn Berlusconi in Palermo sagt, er werde den leichten Rückstand in den letzten Tagen noch aufholen, ist das wohl Wahlkampf-Poker. Laut den letzten vor zehn Tagen veröffentlichten Umfragen liegt Berlusconi zwischen 4 und 10 Prozent zurück. Doch mit populistischen Parteien haben Meinungsforscher ihre liebe Mühe – nicht nur in Italien. Viele Leute schämen sich, den Meinungsforschern gestehen zu müssen, dass sie für eine populistische Partei stimmen – und stimmen dann doch für sie. Deshalb sind Prognosen heute so schwierig.
Es gibt Vermutungen, dass Berlusconi in den letzten Tagen kaum mehr Boden gutgemacht hat. Diese Vermutungen stützen auf die Klickzahlen der Berlusconi-treuen Webseiten. Auch seine Auftritte, so jener in Palermo, sind nicht mehr völlig ausgebucht. Doch solche Interpretationen sagen nicht viel.
Schadet der Papst-Rücktritt Berlusconi?
Sicher ist: Der überraschende Rücktritt von Papst Benedikt hat Berlusconi die Wahlkampf-Show gestohlen.
Doch hat diese Demission wirklich einen Einfluss auf die Wahlen? Ja, sagen die einen, denn Berlusconi kann sich nicht mehr mit seinen kriegerischen Auftritten in Szene setzen und Stimmen gewinnen.
Nein, sagen die andern. Denn eine Woche vor den Wahlen seien die Meinungen gemacht. Längst zählten keine Argumente mehr, sondern das Bauchgefühl. Zwar sagen über 20 Prozent der Italiener, sie wüssten noch nicht, für wen sie stimmen wollten. Doch die grosse Mehrheit dieser 20 Prozent geht ohnehin nicht an die Urnen; sie ist angewidert von der Politik.
Dazu kommt: Berlusconi entgleist in seiner Wut und seinem politischen Überlebenskampf immer mehr. Wenn er jetzt sagt, Schmiergeldzahlungen seien nicht nur üblich, sondern auch nötig, wird ihm das vielleicht eher Stimmen abspenstig machen. Die finale Polterei des älteren Herrn könnte eher kontraproduktiv sein.
„Lasst Berlusconi nur poltern“, sagen seine Gegner, „er schadet sich selbst.“ Da trifft er in einem Betrieb vor laufender Kamera eine hübsche junge verantwortliche Frau. Offen fragt er sie: „Wie oft kommen sie?“ Die junge Frau versteht die sexuelle Anspielung nicht richtig. Berlusconi hackt nach: „Wie oft kommen sie?“ Nicht alle finden das lustig. Aber ob ihm das wirklich schadet, ist eine andere Frage.
Alarmierte USA
Jedenfalls fürchten sich viele vor seinem Comeback, so auch Obama. Der überschwängliche Empfang, den Washington dem italienischen Staatspräsidenten gewährte, ist vor allem ein Affront gegen Berlusconi. Man weiss, dass Napolitano kein Freund von Berlusconi ist. Man weiss auch, dass Obama wenig von Berlusconi hält. Italien sei im Jahr 2011 „vor einer katastrophalen Krise, vor einem finanziellen Kollaps“ gestanden, sagte Napolitano in Washington – eine klare Anspielung auf Berlusconis Regierungsbilanz.
Es ist nicht üblich, dass die amerikanische Regierung vor wichtigen Wahlen einen Vertreter dieses Landes zu einem derart langen Gespräch einlädt. Dass Obama dies trotzdem tat, zeigt, wie alarmiert die USA sind. Sie fürchten sich vor Berlusconi, vor seinem billigen Populismus – und vor allem davor, dass die achtwichtigste Volkswirtschaft der Welt Schiffbruch erleidet. Das hätte auch Konsequenzen für die amerikanische Wirtschaft.
“Populistischer Bluff“
Dass sich Deutschland vor Berlusconi fürchtet, ist bekannt. In einem Interview mit dem italienischen Nachrichtenmagazin „Espresso“ ruft Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Italiener auf, gegen Berlusconi zu stimmen. Eine solche Einmischung in die Belange eines andern Staates entspricht in keiner Weise der diplomatischen Usanz. Dass es Schäuble dennoch tat, zeigt, wie gross die Sorge um Italien geworden ist.
Populismus musste sich Berlusconi jetzt gar von ungewohnter Seite vorwerfen lassen. Giuliano Ferrara, der Herausgeber der rechtsgerichteten Zeitung Il Foglio bezeichnet die Steuerversprechen seines einst engen Freundes als populistischen Bluff.
Doch schadet das alles Berlusconi?
“Kein Huhn im Hühnerhof des Regimes“
Eine weitere Formation könnte das klassische Parteiengefüge durcheinanderwirbeln. Die Bewegung „5 stelle“ des Genueser Komikers Beppe Grillo ist offenbar im Aufwind. Am Samstag war die Piazza Castello im Zentrum von Turin zum Bersten voll. 30‘000 Anhänger lauschten Grillos Tiraden gegen das politische Establishment. Keiner kann auf den Plätzen so viele Leute versammeln wie er. Der Grossaufmarsch in Turin veranlasste Grillo auch dazu, kurzfristig ein geplantes langes Fernsehinterview auf dem Kanal Sky abzusagen. Er ziehe Auftritte auf Plätzen den Fernsehstudios vor. Er sei nicht das Huhn im Hühnerhof des Regimes.
Beobachter schliessen nicht aus, dass Grillo 20 bis 25 Prozent der Stimmen erhält. Damit würde er mehr als hundert Vertreter im 630 Sitze zählenden Abgeordnetenhaus stellen – und erhielte eine erhebliche politische Macht.
Und wenn die Wahlen keine klaren Mehrheitsverhältnisse bringen. Dann wird man sich wohl in Rom – à l’italienne – eine Zeit lang durchwursteln. Und irgendwann gibt es dann Neuwahlen. Und Berlusconi wird dann ins Land hinausposaunen, dass es der Linken nicht möglich war, das Belpaese zu regieren. Also: „Wählt diesmal mich!“
Wer auch immer gewinnt – auch nach den Wahlen stehen Italien stürmische Zeiten bevor.
Präsident Obama hatte seinem Gast, dem italienischen Staatspräsidenten Napolitano, letzte Woche erklärt, dass seine Töchter Italien bald wieder besuchen möchten. „Sasha und Malia lieben ihr Land“, sagte Obama.
Wenn Berlusconi gewählt wird, müssen die beiden Töchter wohl noch warten.