Bis zum letzten Sonntag hat er sich gewehrt. Noch glaubte der 76-Jährige daran, wieder eine wichtige Rolle spielen zu können. Doch seine Freunde glaubten es nicht mehr. Sie liessen ihn fallen. Es ist die schmerzhafteste Niederlage, die der siegesgewohnte Berlusconi erleidet.
Am Mittwochnachmittag veröffentlicht er – zur Überraschung fast aller – eine 50 Zeilen lange Erklärung. „Aus Liebe zu Italien“ verzichte er auf eine Kandidatur als Ministerpräsident. Dann schliesst er sich im ersten Stock in seinem Palazzo Grazioli in Rom ein und will niemanden sehen. Viele seiner Freunde wollen zu ihm. Ein Sekretär weist sie alle ab. „Seid ihr euch bewusst, in welchem Moment ihr kommt“, sagt der Sekretär, „seid ihr euch das wirklich bewusst?“. Für einmal will Berlusconi allein sein.
Alles nützte nichts
Noch im Sommer hatte Berlusconi angekündigt, wieder als Ministerpräsident kandidieren zu wollen. Minutiös bereitete er sich darauf vor. Er verzichtete auf die üblichen kruden Äusserungen, er unterzog sich einer Abmagerungskur, trank nur noch Kräutertee und begann mögliche Koalitionspartner zu ködern. Er verkaufte seine verrufene Villa auf Sardinien und versuchte sich ein neues, staatsmännisches Image zu geben. Fertig mit Ruby und Co. Sogar seiner Frau, die ihn einst als sex-krank bezeichnete, näherte er sich wieder an. Doch alles nützte nichts.
Dass es ihm nicht gut geht, zeigt auch eine Video-Botschaft, die er am Freitag veröffentlicht hat. Er wirkt steif, fast verkrampft, gestelzt – nichts bleibt übrig von dem einst lockeren Volkstribun. In einer siebenminütigen Erklärung ruft er die Jungen auf, das gleiche Wunder zu vollbringen, das er vor 18 Jahren vollbracht habe.
Die Partei bricht auseinander
Dem Rücktritt am Mittwoch ist ein fünfstündiges Treffen mit seinen engsten Vertrauten vorausgegangen. Zu ihnen gehört Angelino Alfano. Berlusconi hatte Alfano seit längerem zu seinem Nachfolger ernannt. Doch der junge Kronprinz wurde immer wieder vom grossen Meister gedemütigt. Jetzt, am letzten Dienstag, stand Alfano auf die Hinterbeine und forderte den Rücktritt. Die Zeit drängt, denn am Sonntag stehen in Sizilien Regionalwahlen an. Alfano fürchtet, dass die Partei (mit Berlusconi) eine weitere Niederlage einfährt. Giuliano Ferrara, einer der engsten Berlusconi-Freunde, sein Ghostwriter und Direktor der Berlusconi-Zeitung „Foglio“ hat offenbar das Demissionsschreiben verfasst.
„Per amore dell’Italia“ mache er einen Schritt zurück. Es sei die gleiche „Liebe zu Italien“, die ihn vor 18 Jahren bewogen habe, in die Politik einzutreten. Noch einmal spielt sich Berlusconi als nobler, verantwortungsbewusster Landesvater auf. Doch ganz so nobel ist sein Rücktritt nicht. Schwerwiegende äussere Umstände haben ihn dazu gezwungen. Seine Partei steht kurz vor dem Auseinanderbrechen.
Nur noch elf Prozent für Berlusconi
Laut jüngsten Meinungsumfragen käme Berlusconis PdL-Partei („Popolo della Libertà“, Volk der Freiheit) heute auf 14 – 15 Prozent der Stimmen. Berlusconi selbst wird laut dem Institut Piepoli nur noch von elf Prozent der Italiener unterstützt. Immer mehr seiner einst engsten Vertrauten haben das Schiff verlassen, unter ihnen seine einst angehimmelte Ministerin Mara Carfagna. Auch seine engsten Freunde Gianni Letta und Fedele Confalonieri haben ihm den Rücktritt nahegelegt. Und da ist das Urteil im Mediaset-Prozess in Mailand, das Berlusconi in erster Instanz zu vier Jahren Gefängnis verteilt - vier Jahre, die er wohl kaum absitzen wird.
Zudem ist die Partei in zahlreiche deftige Korruptionsskandale in mehreren Regionen verwickelt. In Mailand kommen fast tägliche neue Einzelheiten über die Machenschaften des Regionalrates Roberto Formigone zutage. In 17 Jahren soll er sich und seinen Freunden 700 Millionen Euro zugeschanzt haben.
Die Italiener sind angewidert; sie haben genug von den Politikern. Über die Hälfte der Wahlberechtigten wollen im kommenden Frühjahr nicht wählen gehen. Die Protestpartei „Movimento 5 stelle“ von Beppe Grillo hat Zulauf. Laut einer Meinungsumfrage kommt die 5-Sterne-Bewegung auf 20 Prozent der Stimmen.
Der Turm zu Babel
Der „Berlusconismus“ ist abgewirtschaftet. Das System bricht zusammen „wie der Turm zu Babel“, sagt Nobelpreisträger Dario Fo in einem Interview mit dem Magazin „Espresso“. „Ich sage, das Schlaraffenland ist am Ende“. Noch vor kurzem glaubte Berlusconi, das Steuer herumreissen zu können. Er wollte seine Partei neu gründen. Zuerst wollte er sie „Grande Italia“ nennen, dann „Magic Italia“, dann wieder – wie früher – „Forza Italia“. Alles vergebens.
Die Partei hat auch die Unterstützung der Wirtschaft verloren. Im kommenden Frühjahr wird Italien wählen. Die wichtigsten Wirtschaftsvertreter des Landes wollen eine zweite Amtszeit von Mario Monti, der ein sogenannt technisches Kabinett anführt. Der einflussreiche Ferrari-Chef Luca Cordero di Montezemola hat Monti am Mittwoch ausdrücklich das Vertrauen ausgesprochen. Montezemolo hat inzwischen erklärt, er selbst wolle nicht kandidieren, aber seine Bewegung „Italia Futura“ wolle unverbrauchte Leute für das Parlament vorschlagen.
“Alle gegen alle“
Berlusconi wurde nicht nur zum Rücktritt gezwungen. Nicht einmal seinen Nachfolger darf er bestimmen. Bis vor kurzem hatte er sich gewehrt, dass die Partei sogenannte Primaries durchführt. Jetzt plötzlich hat er für den kommenden 16. Dezember eine solche Urwahl angesetzt. Die Parteimitglieder können also entscheiden, wer als Spitzenkandidat in die kommenden Wahlen gehen wird. Viele PdL-Parteigrössen wehren sich gegen eine solche Urwahl. Sie bezeichnen sie als „linkes, basisdemokratisches Getue“.
Die PdL folgt also der italienischen Linken, die schon vor längerer Zeit angekündigt hat, ihren Spitzenkandidaten durch Primärwahlen zu bestimmen. Die linken Primaries sollen am 25. November stattfinden. Und jetzt? Der PdL-Übervater ist weg. Vieles deutet darauf hin, dass in seiner Partei das Chaos ausbricht. „Seid ihr euch bewusst, dass jetzt ein Krieg ‚alle gegen alle stattfinden wird?“ sagt Roberto Tortoli, ein PdL-Schwergewicht.
Einer unter 315?
Sicher wird Angelino Alfano als Spitzenkandidat kandidieren, doch er wird längst nicht der Einzige sein. Schon hat sich die streitbare, sehr rechts stehende Daniela Santanchè angesagt. Auch der Bürgermeister von Rom, Gianni Alemanno will kandidieren, ebenso Giancarlo Galan und Alessandro Gattaneo. Niemand von ihnen besitzt das Charisma, die auseinanderfallende Partei einigen zu können.
Das Land befindet sich an einem politischen Wendepunkt. Manches weist heute darauf hin, dass Mario Monti eine zweite Amtszeit lang regieren wird. Selbst Berlusconi hat sich sehr positiv über den Notstandsministerpräsidenten geäussert. Und Alfano? Auch er schliesst eine zweite Amtszeit Montis nicht aus.
Ganz wird Berlusconi wohl nicht abtreten. Seine Freunde haben ihm vorgeschlagen, für den Senat zu kandidieren. Er, der einst noch Staatspräsident werden wollte, könnte plötzlich einer von 315 Senatoren sein – ein bitterer Abgang.