Mitte der 1950er Jahre hat der in Westdeutschland als Korrespondent tätige Schweizer Journalist Fritz René Allemann mit seinem Buch „Bonn ist nicht Weimar“ Furore gemacht. Der Autor trat damals der in der ersten Nachkriegszeit öfters artikulierten Befürchtungen entgegen, der westdeutsche Teilstaat könnte sich in eine ähnlich instabile Richtung entwickeln wie die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg, aus deren inneren Zerrissenheit die Hitler-Diktatur hervorgegangen war.
Zehn Jahre später äusserte der in Basel lehrende deutsche Philosoph Karl Jaspers erneut tiefe Besorgnis um die Zukunft der Bonner Demokratie in seinem Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ Er befürchtete eine Entwicklung zur Parteienoligarchie und „von der Parteienoligarchie zur Diktatur“.
Die Geschichte hat seither Allemanns – im Einzelnen durchaus vorsichtig formulierte – These bestätigt und die düsteren Unkenrufe des berühmten Philosophen widerlegt. Unerwartet ist inzwischen auch die deutsche Nachkriegsteilung friedlich überwunden worden. Und das vereinigte Deutschland ist dank seiner Wirtschaftskraft und einer im Ganzen umsichtigen politischen Führung zu einer Art Alphatier und einem Stabilitätsanker in der EU avanciert.
Ist das nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition und den unsicheren Aussichten auf eine Erneuerung der Grossen Koalition (vulgo: GroKo) von CDU/CSU und SPD nun alles in Frage gestellt? Von Weimarer Verhältnissen ist keine Spur zu sehen. Die deutsche Wirtschaft prosperiert weiter, die Verwaltung funktioniert.
Unter den verschiedenen Optionen, eine Mehrheitsregierung zustande zu bringen, dürfte die Entscheidung zu baldigen Neuwahlen die vernünftigste sein. Manches spricht dafür, dass eine Fortsetzung der bisherigen Grossen Koalition vor allem den narzisstischen Trend zur sogenannten Staatsverdrossenheit weiter stimulieren und den ideologischen Rändern (AfD und die Linke) zusätzlichen Auftrieb verschaffen würde, wovor unter anderen der Historiker Heinrich August Winkler eindringlich gewarnt hat.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei einem neuen Wahlgang in ein oder zwei Monaten zumindest ein grösserer Teil jener Wähler, die sich von der CDU/CSU oder der SPD (von Demagogen als „Systemparteien“ verhöhnt) abgewendet haben, wieder stärker darauf besinnen, was Deutschland unter Merkels pragmatischer Führung alles erreicht und an internationalem Ansehen gewonnen hat. Vielleicht kommen solche Wähler dann auch zum Schluss, dass es nach reiflicher Überlegung der eigenen und der nationalen Interessen noch zu früh ist, das vielzitierte „Ende der Ära Merkel“ jetzt schon festzuklopfen.
So könnten baldige Neuwahlen der bisherigen Kanzlerin einen gestärkten Regierungsauftrag bescheren – sei es mit der FDP oder erneut mit der SPD. Theoretisch denkbar ist als Resultat auch eine Neuauflage des links-grünen Regierungsbündnisses, wie es unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer nicht schlecht funktioniert hat. Gewiss, der Prozess der Berliner Regierungsbildung ist zurzeit schwer berechenbar – und wer sich im zurückliegenden Bundestagswahlkampf über eine „dösende Politik“ beklagt hat, muss sich nun neue Schlagwörter einfallen lassen. Mit den unheilvollen Weimarer Verhältnissen aber hat das noch nichts zu tun.