Ein Ausflug auf den Gnipen, wo sich am 2. September 1806 eine riesige Felsmasse gelöst und das Dorf Goldau praktisch vollständig zerstört hat, gibt Anlass, über alpine geologische und eigene muskuläre Energien nachzudenken.
Mit dem Zug ins Tessin zu reisen – Autos gab es damals ohnehin nur wenige – bedeutete für meine Generation eine Sonderlektion in Schweizer Geschichte: Der Apfelschuss in Altdorf, die für den Bösewicht Gessler zum Verhängnis gewordene hohle Gasse in Küssnacht, der Schwur auf dem Rütli, der Bau der Teufelsbrücke in der Schöllenen, die trutzigen Burgen von Bellinzona, welche von einer Zeit berichteten, als die Eidgenossen diesseits der Alpen ihre Untertanen jenseits hatten …, all das gehörte zur Lektion, welche Mütter und Väter (letztere vor allem) auf der Fahrt gerne ihren Kindern als Reisegepäck fürs Leben mitgaben, zusätzlich zum Wissen aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften wie das dreimal sichtbare Kirchlein von Wassen und das Verhalten des aus Schnur und Sackmesser gebastelten Pendels im Kehrtunnel.
Sollte der Zug in Arth-Goldau länger auf einen Anschluss warten müssen, kam man unweigerlich auf den 2. September 1806 zu sprechen, als tausend Meter über dem Tal die Felsen ins Gleiten kamen, mit ungeheurer Wucht zu Tal polterten und 457 Menschen den Tod brachten. Man schaute dann angstvoll den Hängen des Rossberg entlang hinauf zum Gnipen, von wo sich wie eine immer noch nicht verheilte Wunde Felsbänder ins Tal ziehen, betrachtete danach bei der Weiterfahrt nach Steinen und Schwyz mit Respekt und etwas Angst die bizarr geformten Felsbrocken aus Nagelfluh, welche wie steinerne Elefanten im Wald liegen und ihre Geschichte erzählen, welche vor 25 Millionen Jahren harmlos und bedächtig begonnen hatte.
Damals entstanden als Folge der Kollision von Afrika und Europa die Alpen. Mit der Aufwölbung der Erdkruste begann zugleich deren kontinuierlicher Abtrag durch Erosion: Bäche und Flüsse transportierten Sand, Kies und Geröll in die dem jungen Gebirge vorgelagerten seichten Meere, wo sich das Material im Laufe der Zeit zu sogenannten Konglomeraten verfestigte. In der Geologie heissen diese Ablagerungen Molasse oder, bestehen sie aus zementiertem Geröll, Nagelfluh. In der Endphase der Alpenauffaltung wurden diese einst horizontal gelagerten Konglomerate ihrerseits zu sich übereinander schiebenden Schichten aufgetürmt. So entstanden die typischen Nagelfluh-Berge wie zum Beispiel die Rigi und der Speer.
Das geschah auch mit den Ablagerungen zwischen dem heutigen Lauerzer- und Ägerisee: Die Schichten wurden gegen Norden um 30 Grad nach oben gehoben. Schon seit mehr als 20 Millionen Jahren liegen sie nun als gigantische schiefe Ebene in der Landschaft. Lange rührten sie sich wahrscheinlich kaum und gingen erdgeschichtlich sozusagen vergessen. Als vor 2,7 Millionen Jahren eine neue Eiszeitepoche begann – es gab schon früher solche Epochen in der Geschichte der Erde –, kamen auch die Alpen und ihr Vorland unter den Einfluss periodisch vorstossender und sich wieder zurückziehenden Gletscher.
Der letzte Gletschervorstoss liegt nur rund zehntausend Jahre zurück. Wir befinden uns in einer sogenannten Zwischeneiszeit, und es gibt keinen Grund anzunehmen, die Eiszeit als solche sei damit zu Ende, auch wenn der Mensch momentan – im Vergleich zu den natürlichen Eiszeitzyklen sehr kurzfristig – das klimatische Zepter übernommen hat.
Während der Kaltperioden stiess ein Seitenarm des Reussgletschers von Brunnen her immer wieder durch den Talkessel von Schwyz zum heutigen Zugersee vor und malträtierte dabei durch Erosion den Fuss der schräggestellten Rossberg-Platte. Ohne dieses Widerlager hafteten die schiefgestellten Schichten nur noch durch Reibung aufeinander. Welche Konsequenzen dies in früheren Zwischeneiszeiten für die Platte gehabt hat, wissen wir nicht, aber sicher ist, dass seit dem Rückzug der bisher letzten Eiszeitphase Teile der Rossbergplatte immer wieder wie auf einer gewaltigen Rutschbahn ins Tal geglitten sind, letztmals – wie erwähnt – am 2. September 1806.
Über den Bergsturz von Goldau ist viel geschrieben worden, auch darüber, dass die damaligen Talbewohner die Zeichen einer bevorstehenden Katastrophe nicht richtig gedeutet oder sie ganz einfach ignoriert haben. An jenem verhängnisvollen Tag donnerten etwa 40 Mio. Kubikmeter Felsmasse rund tausend Meter zu Tal. Einzelne Felsbrocken rollten auf der andern Talseite, an der Flanke der Rigi, bis hundert Meter hinauf.
Der Bergsturz hat später Künstler, Musiker und Dichter zu Werken inspiriert, so zum Beispiel Peter Lüssi und Ruedi Schorno, welche im Jahre 2006 zum zweihundertjährigen Jubiläum ein Bergsturz-Musical geschaffen haben. Ferner hat der Bergsturz für Wanderer und Naturfreunde eine einzigartige Landschaft hinterlassen, welche, verfügt man über die nötige physische Kraft und Ausdauer, einen Besuch lohnenswert macht.
Mit dem Argument der Einzigartigkeit habe ich mich kürzlich von meinem Freund und einstigem ETH-Kollegen Sepp – einige Jahre jünger als ich und, anders als ich, als Berggänger gut trainiert – zu einem Aufstieg durch das Bergsturzgebiet hinauf zum Gnipen (1567 m) überreden lassen. Er werde für einen würdigen Gipfel-Imbiss sorgen, versprach er, um meine Zweifel punkto Kondition zu zerstreuen. Zudem könnten wir von Goldau aus die ersten 500 Höhenmeter im Auto bis zur Bergwirtschaft Gribsch (960 m) fahren. – Meine Neugierde war geweckt und ich sagte zu.
Wir queren nun das Auslaufgebiet des 1806-Bergsturzes. Zwei Wege führen rechts in den von senkrechten Felswänden eingeschlossenen Kessel hinauf, wo sich ein einzigartiges Biotop mit seltenen Pflanzen – berühmt sind die verschiedenen Orchideenarten, darunter im Frühling besonders die zierlichen Frauenschüeli – gebildet hat. Da diese Pfade weiter oben enden, gehen wir noch ein paar hundert Meter weiter bis zum Weg, welcher an der westlichen Flanke des Bergsturzes in der Falllinie zum Gnipen hinaufführt. Am Anfang geht es noch harmlos, wenn auch stotzig, durch einen Bergwald bergauf. Ab ungefähr 1200 Meter Höhe werden die Tritte unregelmässiger; der Weg führt nun oft zwischen riesigen, bizarr geformten Nagelfluhblöcken in die Höhe. Plötzlich befinden wir uns auf einem steilen Grat: Rechts geht es in den Kessel von 1806 hinunter, links (westlich) senkt sich eine senkrechte Wand zur Spitzbühlalp. Tatsächlich handelt es sich hier um die Gleitbahn des prähistorischen Oberarther Bergsturzes, des grössten unter den bekannten Sturzereignisses am Rossberg.
Vor lauter Steinen hätten wir beim Aufstieg fast den Himmel vergessen. Auch hier ist einiges in Bewegung: Von Süden her schiebt der Föhn Wolken heran, verhüllt den Talkessel von Schwyz und die Mythen, aber schliesslich gewinnt der blaue Himmel im Norden den Kampf. Auch der Kampf meines achtzigjährigen Herzes gegen die Höhenkurven endet gut; der Aufstieg fällt mir leichter als befürchtet. Plötzlich bleibt der Bergwald zurück; der Blick wird frei auf den Zuger- und Ägerisee. Oberhalb der eindrücklichen Abrisskante gehen wir das kurze Stück zum Gnipen. Weitere zwei Kilometer ostwärts, auf dem Wildspitz, gäbe es eine Beiz, aber dank Sepps kluger Planung sind wir autonom. Wir suchen uns ein Plätzchen auf der Alpwiese, wo Sepp auf einem improvisierten Tisch unser Gipfelmahl serviert, zu dem selbstverständlich auch der Gipfelwein gehört.
Alles ist friedlich und still. Und so steil ist es ja gar nicht. Man kann sich kaum vorstellen, dass hier, nur wenige Meter von unserem Rastplatz entfernt, sich an jenem späten Septembernachmittag die von den Älplern bisher als harmlos eingestuften, sich langsam vertiefenden Klüften entlang des Grates plötzlich geöffnet haben und die Nagelfluhschichten wie ein riesiger Teppich ins Tal geglitten sind.
Für den Abstieg wählen wir den Weg entlang der östlichen Begrenzung des Bergsturzes. Hier haben die bis 70 Meter mächtigen abgerutschten Schichten eine imposante Felskante hinterlassen. Um meine Knie zu schonen, habe ich für einmal Stöcke mitgenommen – eigentlich hasse ich sonst dieses Hilfsmittel. Auf der schiefen Rossbergplatte geht es munter und rasch der Falllinie entlang ins Tal.
Als wir eine Stunde später im Auto das steile Strässchen hinunter nach Steinerberg fahren, spüre ich überraschenderweise vor allem meine Bremsmuskeln, nicht diejenigen, welche mich den Berg hinaufgebracht haben. Ich frage mich, wieso die Natur für das Bremsproblem keine elegantere und energieeffizientere Lösung gefunden hat und wieso uns – anders als bei einem Fahrzeug – auch das Abwärtsgehen Energie abverlangt. – Eine interessante Frage, welche mit der Evolution und ihrer «Unfähigkeit» zu tun hat, das Rad «zu erfinden». – Doch darüber vielleicht ein anderes Mal.