„Was lange währt, wird endlich gut.“ – Mit diesem Sprichwort könnten die Israelis, ihre Politiker und ihre Kommentatoren auf die Meldung von Montagabend reagieren. „Netanjahu und Gantz unterzeichnen Abkommen zur Bildung einer ‚Einheits-Notregierung‘. Merkwürdigerweise waren solch zuversichtliche Töne nicht in den ersten Reaktionen zu hören. Zu lange waren alle an der Nase herumgeführt worden, ganz zu schweigen davon, dass Verhandlungen mit dem Ziel einer solchen Regierung erst nach der dritten Parlamentswahl aufgenommen wurden.
Auch diesmal war das Ergebnis so knapp, dass keiner der beiden Hauptkontrahenten alleine eine Mehrheit von mindestens 61 der 120 Knesset-Mandate hätte aufbieten können. Diesmal aber gelang es dem Oppositionsführer Benny Gantz, eine Mehrheit zur Unterstützung seines „Blau-Weiss“-Parteienbündnisses zusammenzubekommen und er erhielt den Auftrag zur Regierungsbildung.
Hier allerdings stellte sich sehr bald heraus, dass eine zahlenmässige Mehrheit noch keine Garantie für Erfolg ist. Besonders, wenn man gegen einen wie „Bibi“ Netanjahu antritt. Der nämlich war – und ist – entschlossen, sich nicht aus dem Amt vertreiben zu lassen, das er wegen der Wahlen seit über 16 Monaten nur als Übergangspremier bekleidet.
Selbst gestellte historische Aufgabe
Machthunger allein ist es nicht, was Netanjahu dabei antreibt. Es ist in erster Linie die Überzeugung, eine historische Aufgabe zu erfüllen und Israel dem Traum nationalistischer Kreise näher zu bringen: Dem „Staat Israel“ die Ausmasse des biblischen „Eretz Israel“ zu verschaffen. Und zu diesem Zweck weitere grössere Teile Palästinas zu annektieren. Netanjahu fühlt sich dabei fast vorbehaltlos unterstützt von US-Präsident Trump, der bereits die Annektierung der syrischen Golan-Höhen und Ostjerusalems anerkannt hat.
Von Seiten der US-Demokraten kann er nicht mit solcher Rückendeckung rechnen. Und das in einem Wahljahr – in den Augen Netanjahus ein Risiko, das Eile gebietet, vollendete Tatsachen zu schaffen. Dies umso mehr, als er ja auch selbst ein Getriebener ist: Lange hat er sich dem zwar entziehen können, schliesslich wurde aber doch gegen ihn Klage wegen Korruption, Betrug und Vorteilsannahme erhoben und der Prozess hätte bereits begonnen, wenn nicht inzwischen auch Israel vom Coronavirus heimgesucht worden wäre. Wie fast überall in der Welt wurden strikte Notmassnahmen ergriffen, um die Zahl der Opfer möglichst gering zu halten und Netanjahu war in seinem Element: Die Führung des Staates in solch einer Situation müsste doch sicher seine Stellung stärken.
Dank Corona eine „Einheits-Notregierung“
Deswegen war Netanjahu zunächst nicht sonderlich daran interessiert, mit Gantz über eine Variante zu reden, die bereits seit über einem Jahr immer wieder ins Gespräch kam: Eine „Enheitsregierung“ von „Likud“ und „Blau-Weiss“. Mit Hilfe von Corona wurde daraus eine „Einheits-Notregierung“: Zu Ostern gab Gantz plötzlich bekannt, dass er einer solchen Regierung beitreten wolle, weil die Probleme des Landes dies einfach erforderten.
Mit einem Schlag war vergessen, dass Ex-General Gantz von Anbeginn seiner politischen Karriere betont hatte, ihm gehe es in erster Linie um die Entmachtung Netanjahus. Und nun wollte er mit diesem zusammen regieren und nach anderthalb Jahren den Job des Regierungschefs tauschen.
Das war einem Teil seiner „Blau-Weiss“ Partner denn doch zu heftig und sie kündigten ihm die Gefolgschaft. Begriffe wie Verrat und Defaitismus machten die Runde, Gantz liess sich aber nicht beeindrucken. Er liess sich sogar zum Vorsitzenden der Knesset wählen und löste damit einen engen Netanjahu-Partner ab. Und zu Ostern schien alles so, als sei das Abkommen Benjamins mit Benny perfekt:
In der Frage der Annektierungspläne einige man sich darauf, dass dies nicht ohne ausdrückliche Zustimmung Washingtons, aber auch anderer Staaten geschehen solle. In etwa, was Gantz seit der Veröffentlichung des US-Plans für Frieden in Nahost gefordert hatte. Die wichtigsten Ministerposten wurden ziemlich gerecht zwischen beiden Seiten verteilt und es hiess, dass noch am Ostermontag unterzeichnet werde.
Kampf um Kontrolle über die Justiz
Der Tag kam, der Tag ging. Nichts geschah. Die Frist zur Regierungsbildung war abgelaufen, der Präsident war aber nicht bereit, die Aufgabe nun Netanjahu zu übertragen: Dieser hatte dabei im zurückliegenden Jahr bereits zweimal versagt und hatte auch weiterhin keine Mehrheit. Wegen des jüdischen Osterfestes (Pessach) gab es aber eine zweitägige Pause und die Verhandlungen wurden wieder aufgenommen. Das einzige, was nach draussen drang, war immer wieder, dass man sich „im Prinzip“ in fast allem einig sei.
So langsam aber stellte sich heraus, dass es inzwischen um die Kontrolle der Justiz ging. Netanjahu wollte sicherstellen, dass das Oberste Gericht ihm nicht in letzter Minute wegen seines Prozesses das Recht abspricht, im Amt zu bleiben. Eine gute Woche ging ins Land, durchsetzt von vermeintlichen Fortschrittsmeldungen, denen dann aber keine Fakten folgten. Das Ansehen Netanjahus wuchs in der Bevölkerung – zumindest am Anfang – wegen der Anti-Corona-Massnahmen, während das Ansehen von Gantz immer geringer wurde. Etwa im gleichen Mass, wie auch seine politische Gefolgschaft in der Knesset immer rückläufiger wurde.
Präsident Rivlin hatte inzwischen die Knesset beauftragt, einen geeigneten Regierungs-Architekten zu finden. Das Gesetz sieht solches vor, es schliesst dabei aber die bisherigen Unterhändler nicht aus. Und die machten unbekümmert weiter, bis es am späten Montagnachmittag plötzlich hiess, man habe sich geeinigt und unterzeichnet. In der letzten strittigen Frage um den Einfluss auf die Justiz habe es einen Kompromiss gegeben: Der Likud habe bei der Berufung der wichtigsten Posten ein Wort mitzureden.
Der Prozess gegen Netanjahu, der auf Mai verschoben ist, kann also anfangen. Das Risiko für den Angeklagten ist scheinbar beträchtlich reduziert. Damit wird aber auch das Sprichwort in Frage gestellt, was lange währe, werde am Ende gut.