Würden Sie es schätzen, wenn ein „Prominenter“ in Zeitungsinterviews herumerzählte, welche Partei Sie wählen? Und dies, obwohl er noch nie mit Ihnen auch nur gesprochen hat?
Mit „grossen“ Autoren und „grossen“ Schweizern lässt sich das ungestraft machen. Bei Gottfried Keller fügen sich derartige Übergriffe zudem nahtlos in das anekdotenschwangere lokalpatriotische Bild seines Lebens und seiner Person ein, das ihn bereits zu Lebzeiten begleitete. Meist geschieht dies mit Anekdoten, die „leider“ nicht belegt sind.
Geht es um Kellers politische Haltung, so gibt es immer wieder Versuche, den bedeutenden Dichter für die Rinnsale des eigenen Gedanken- und Propagandaflusses in „freier Nachschöpfung“ einzuspannen. Dabei wäre eine Auseinandersetzung mit den – direkten und indirekten – politischen Interventionen Kellers durchaus auch heute noch fruchtbar.
Keller wusste zweifellos, dass er ein bedeutender Autor ist. Dafür, dass er daraus eine politische Sonderstellung und höhere Weisheit für sich abgeleitet hätte, gibt es aber keine greifbaren Belege. Er dürfte ein Anhänger der These gewesen sein, man müsse sich da schon selbst Gedanken machen. In diesem Zusammenhang ist es übrigens interessant, dass die tatsächlichen politischen Erfahrungen aus der täglichen Arbeit als Staatsschreiber kaum genauer untersucht sind, obwohl in seinem Nachlass und im Staatsarchiv die Unterlagen zu finden wären. Aus den handschriftlichen Protokollnotizen Kellers aus den Sitzungen des Regierungsrates haben bisher nur die Randkritzeleien Interesse gefunden.
Doch schauen wir auf das in seinen publizierten Schriften greifbare Material.
1841 in München, also lange vor dem Entscheid, sich der Dichtung zuzuwenden, schreibt Keller für eine handgeschriebene Kneipenzeitung einen Aufsatz, den Christoph Blocher im Albisgüetli 2011 selektiv zitiert. Der Aufsatz trägt den Titel: „Vermischte Gedanken über die Schweiz“. Einen kurzen Ausschnitt veröffentlichte bereits Baechtold in seiner Biografie, vollständig druckte ihn Hans Max Kriesi 1918 in seinem Buch „Gottfried Keller als Politiker“ ab. Beide Daten, 1841 und 1918, sind von Bedeutung: 1841 – die Radikal-Liberalen kämpfen um eine „neue Schweiz“ und 1918 – „Unser Schweizer Standpunkt“ ist immer noch aktuell.
1841 definieren sich die liberalen Bewegungen in Deutschland national. Vorherrschend ist die grossdeutsche Bewegung, die versucht, den deutschsprachigen Teil der Schweiz für sich zu reklamieren. Dagegen richtet sich der Text Kellers. Er räumt mit allen Versuchen auf, die Nation durch äussere Merkmale zu definieren. Weder Sprache noch Geographie und schon gar nicht die Abstammung sind konstitutiv:
Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Lage des Landes, noch sonst in irgend etwas Materiellem; sondern er besteht in ihrer Liebe zur Freiheit, zur Unabhängigkeit, er besteht in ihrer ausserordentlichen Anhänglichkeit an das kleine, aber schöne u theure Vaterland, er besteht in ihrem Heimweh, das sie in fremden, wenn auch den schönsten Ländern, befällt. Wenn ein Ausländer die schweizerische Staatseinrichtung liebt, wenn er sich glücklicher fühlt, bei uns, als in einem monarchischen Staate, wenn er in unsre Sitten u Gebräuche freudig eingeht u sich voll und überhaupt sich einbürgert, so ist er ein so guter Schweizer, als einer, dessen Väter noch schon bei Sempach gekämpft haben. Und umgekehrt, wenn ein Schweizer, sich mit Frankreich od. Deutschland zu sehr sympathisirt, wenn er sich behaglich u glücklich befindet als Unterthan irgend eines fremden Souverains, wenn er fremde Gewohnheiten aus Neigung annimmt u heimathliche Sitten verachtet, so ist er kein Schweizer mehr, er ist ein Franzose, ein Oestreicher, wo ihn sein Herz hinzieht, u das kann man ihm nicht immer zur Sünde anrechnen; denn der Neigungen u Wünsche des Menschen sind so viele, wie Sterne am Himmel.
(In der Rede setzt Blocher das Zitat aus dem Jahr 1841 indirekt in den Kontext von 1871. Er zitiert zudem nur den ersten Satz bis zu „Liebe zur Freiheit“.)
Dieser Text ist aus der Zeit vor 1848 aus schweizerischer Sicht nichts Besonderes, die Fragen werden recht breit auch in schweizerischen Zeitungen diskutiert. Wichtig für das Verständnis Kellers sind zwei Aspekte, die sich – im Kern unverändert – durch sein Werk ziehen:
Das Erste ist die Freiheit als konstitutives Element des Staates und das Zweite die Bedeutung der Sage: An einer wichtigen Stelle weicht der von Kriesi publizierte und von Blocher vorgetragene Text von unserem Zitat ab. Kriesi las die Handschrift an einem Ort falsch. Bei ihm steht „… noch in der Sage des Landes“, weil er das handschriftliche L als ein S liest. Und so wird der Text bis zum Erscheinen des Bandes 16.1der HKKA (der historisch-kritischen Keller Ausgabe), die den Überlieferungsfehler beseitigt, auch immer abgedruckt.
Die Ironie dieses Lesefehlers besteht darin, dass für Keller die Sage des Landes tatsächlich das zweite konstitutive Element der Schweiz ist – und zwar nur die Sage, denn schon Keller wusste, dass der historische Gehalt des Gründungsmythos der kritischen Überprüfung nicht standhält. Heute würde man vom Narrativ der Entstehung der Schweiz sprechen. Beide Aspekte finden wir bei Keller wieder in den „Vaterländischen Sonetten“: die Freiheit im Sonett „Die schweizerische Nationalität“ mit der nochmals ausdrücklichen Ablehnung von „Volksthum und Sprache“ als Grundlagen der Nation, die Tellensage im Sonett „Die zwei Tellenschüsse“ mit dem Satz „Die Perle jeder Fabel ist der Sinn / Das Mark der Wahrheit ruht hier frisch darin“, dem Lieblingszitat von Christoph Blocher.
In einem Notizbuch Kellers findet sich aus dem Jahr 1846 (ev. 1847) eine sehr schöne Strophe, die er später in seiner Heidelberger Zeit in das Gedicht „Heimweh“ einbaut. Dort lokalisiert er den Blickwinkel der Strophe zu Beginn des Gedichtes mit der Zeile „An den schönen Limmathborden“. Die handschriftliche Notiz von 1846 trägt keinen Titel:
Wenn die Welle singend flieht,
Ists, als höre man Geschichten,
Was im Oberland geschieht,
Weit in’s Niederland berichten;
Und wen man stromaufwärts sieht,
Will es scheinen, daß die ganze
Inn’re Schweiz im Firnenglanze
auf der Fluth hernieder zieht
Es sind eben die „Geschichten“, an denen sich das „Niederland“ orientiert und nicht das „Niederland“, das ins „Oberland“ zurückkehrt. Also gerade nicht die Rückkehr zu den Verhältnissen des Oberlandes, sondern die Orientierung an den Geschichten der „inneren Schweiz“. Das macht auf dem Hintergrund der politischen Situation kurz vor dem Sonderbundskrieg durchaus Sinn. Die Version von 1851, also nach Gründung der modernen Schweiz, hat diesen Nebensinn weitgehend verloren.
Soweit einige Zeugnisse der Zeit vor 1848
Der Gründungsmythos der Urschweiz und mit ihm Schiller bleibt auch später an einer seit jeher zentralen Stelle von Kellers Werk bedeutsam. In der Schilderung der Aufführung des „Wilhelm Tell“ im „Grünen Heinrich“, wird das Spiel direkt ins Leben der Dorfbewohner eingebaut und mit einer sehr detaillierten Auseinandersetzung über das Funktionieren des Staates und seiner Beamten bei Interessenkonflikten verschränkt. Die gesamte Szenerie lässt sich dort als ein Vorgriff auf die spätere Entwicklung der liberalen Wirtschaftsordnung lesen, deren Gelingen schon hier nicht auf dem „System“ – vulgo „Markt“ – sondern dem Charakter der handelnden Personen beruht:
Die Unterredung hatte einen peinlichen Eindruck auf mich gemacht; besonders am Wirth (der Darsteller des Tell K. G.) hatte mich dies unverholene Verfechten des eigenen Vortheiles, an diesem Tage und in solchem Gewande gekränkt; diese Privatansprüche an ein öffentliches Werk, von vorleuchtenden Männern mit Heftigkeit unter sich behauptet, das Hervorkehren des persönlichen Verdienstes und Ansehens widersprachen durchaus dem Bilde, welches von dem unparteiischen und unberührten Wesen des Staates in mir war und das ich mir auch von den berühmten Volksmännern gemacht hatte.
Was aber das politische System betrifft, so schreibt er am 7. Mai 1852, also zur Zeit der Niederschrift der ersten Fassung des „Grünen Heinrich“ an seinen Freund Wilhelm Baumgartner:
In jedem Bevollmächtigten und Repräsentanten sogleich den Herren zu spüren, dazu gehört eigentlich eine unfreie Hundsnatur und ihn keine Minute ruhig zu lassen ohne ihm alle fünf Finger in den Topf zu stecken und die Kelle zu beschnüffeln, dazu gehört das Wesen eines alten Weibes, das nichts besseres zu thun weiß. Die repräsentative Demokratie wird daher so lange der richtigste Ausdruck der zürcherischen Volkssouverainetät sein, bis alle psychischen und physischen Materien so klar und flüssig geworden sind, daß die unmittelbarste Selbstregierung ohne zuviel Geschrei, Zeitverlust, Reibung und Confusion vor sich gehen kann, bis das goldene Zeitalter kommt, wo alles am Schnürchen geht und nur Einer den Anderen anzusehen braucht, um sich in ihn zu fügen.
Gerade dieser Brief zeigt, dass Keller sich über die innere Hierarchie staatlicher Systeme durchaus klar war. Er unterscheidet zwischen Volkssouveränität und deren Ausdruck im Verfahren. Das Grundlegende ist die Volkssouveränität. Sie sollte nicht mit einer besonderen staatlichen Organisation verwechselt werden. Und vor allem kann auch eine repräsentative Ordnung Ausdruck der Volkssouveränität sein. Keller blieb – nach allen Quellen – bis an sein Lebensende Anhänger der repräsentativen Ordnung, aber er machte weder aus ihr noch aus der direkten Demokratie eine prinzipielle Frage. Es handelt sich um eine Frage der Zweckmässigkeit. Am 12.06.1868 schreibt er nach der Annahme der neuer zürcherischen Verfassung an Ludmilla Assing:
Wir haben nämlich in unserm Kanton eine trockene Revolution mittelst einer ganz friedlichen, aber sehr malitiösen Volksabstimmung gehabt, wie Sie sonst werden vernommen haben, in deren Folge jetzt unsere Verfassung total abgeändert wird. Das bisherige Repräsentativsystem soll in die neue und absolute Demokratie umgewandelt und damit unser Staatsgebäude in allen Teilen niedergerissen und neu aufgebaut werden. Da ich zu denen gehöre, die nicht von der Zweckmäßigkeit und Heilsamkeit der Sache überzeugt sind, so werde ich ganz resigniert abspazieren, ohne dem Volke zu grollen, das sich schon wieder zurechtfinden wird. Im Anfange der Bewegung hatten wir ewigen Ärger, da sie durch infame Verleumdungen in Gang gebracht wurde. Allein das Volk, welches die Lügen bei ihrer Kühnheit zu glauben gezwungen war, hätte von Stein sein müssen, wenn es nicht hätte aufgeregt werden sollen. Die Verleumder sind auch bereits erkannt und beiseite gesetzt; aber wie der Weltlauf ist, zieht seine Majestät, der Souverän, nichtsdestoweniger seinen Nutzen aus der Sache und behält seine Beute, die er erweiterte Volksrechte nennt.
Bekanntlich musste Keller nicht „abspazieren“ sondern wurde von der neuen Regierung als Staatsschreiber behalten. (Zu den persönlichen Hintergründen der Diskussionen um die Zürcherische Verfassungsrevision der 1860er Jahre kann man z. B. Alfred Muschgs Buch „O mein Heimatland“ lesen.)
Also zusammengefasst: Grundlage eines legitimen Staates ist die Bewahrung der Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger (oder auch seiner Einwohner, das klärt Keller nicht, faktisch waren aber viele seiner Freunde Emigranten, also keine Bürger). Der Zusammenhalt der Schweiz verdankt sich einem Narrativ und nicht „natürlichen“ Merkmalen (Sprache, geographische Grenzen wie Flüsse etc. und Ähnliches), letztlich ist die Schweiz einfach das, was wir eine Willensnation nennen. Der gemeinsame Wille hat seinen Kern in einer literarischen Erzählung, der Tellensage, die diese Freiheit veranschaulicht. Hauptzeuge dafür ist Schillers „Wilhelm Tell“ 1). Nicht verhandelbar ist für Keller die Volkssouveränität, die der Staat garantieren muss.
Dazu kommt nun, dass für Keller jeder Staat (wie überhaupt alles Reale) endlich ist. So beschwört Frymann im „Fähnlein der sieben Aufrechten“ in einem heute grotesk wirkenden – aber zeitgenössisch wohl ernst gemeinten – Loblied auf die Siegerpokalsammlung aller Festvereine das Ende der Schweiz:
Wahrhaftig, wenn ich in der Zeit lebte, wo die schweizerischen Dinge einst ihrem Ende nahen, so wüßte ich mir kein erhebenderes Schlußfest auszudenken, als die Geschirre aller Körperschaften, Vereine und Einzelbürger, von aller Gestalt und Art, zu tausenden und abertausenden zusammenzutragen in all’ ihrem Glanz der verschwundenen Tage, mit all’ ihrer Erinnerung, und den letzten Trunk zu thun dem sich neigenden Vaterland.
Da jeder Staat endlich ist, sind auch jederzeit Veränderungen im Innern und gegen aussen möglich und denkbar. Da ist nichts in Stein gemeisselt.
Da Keller gerade auch im Kontext der sehr aufgeregten EU-Diskusssion ins Feld geführt wird, soll seine Zuschrift an die „Basler Nachrichten“ vom 1. April 1872 hier noch vollständig angeführt werden. Sie verdient es.
Um die Situation richtig einzuschätzen, muss man sich bewusst sein, dass der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 und die darauf folgende deutsche Einigung auch in der Schweiz einige Unruhe auslöste. Dazu kommt, dass die schweizerischen Verhältnisse 1872 immer noch repräsentativ sind, die Verfassung von 1874 ist noch nicht in Kraft.
<01.04.1872 Basler Nachrichten, Nr.77> +Zürich 30.März.
Unter diesem Datum erhalten wir folgende Zuschrift: «An die verehrl. Redaktion der Basler Nachrichten. Ich lese soeben in Ihrem Blatte die Notiz über einen Vorgang am Abschiedsbankett des nach Straßburg berufenen Hrn. Professor Gusserow, und die Bemerkungen, welche Sie daran knüpfen, veranlassen mich, Sie um Aufnahme einer Berichtigung zu ersuchen. Ich hatte allerdings, von belebtem Toastiren hingerissen, auch das Wort ergriffen; der Sinn meiner nicht studirten Rede war kurz gesagt der: Gusserow möchte die Straßburger von ihren alten Freunden den Zürchern grüßen und ihnen sagen, sie möchten sich nicht allzu unglücklich fühlen im neuen Reiche. Vielleicht käme eine Zeit, wo dieses deutsche Reich auch Staatsformen ertrüge, welche den Schweizern nothwendig seien und dann sei eine Rückkehr der letztern wohl denkbar. Selbstverständlich kann nicht von der Form bloßer freier Städte hiebei die Rede sein, da diese ja schon da sind, sondern nur von dem Bestehen größerer Volksrepubliken. Das sind nun Phantasien, welche nicht in eine Staatsschrift gehören würden, aber gewiß in einem Trinkspruch passiren können, ohne zu Mißreden Veranlassung zu geben.
Hierauf sprach Hr. Professor Kinkel und gerieth durch seinen Gedankengang auf den Fall einer gewaltsamen Annexion der Schweiz durch fremde Macht, für welchen Fall er seine Hingebung für die Sache der Republik in beredten Worten ausdrückte. Da es mir und meiner Umgebung schien, daß Hr. Kinkel in mißverständlicher Auffassung meiner Worte an diese habe anknüpfen wollen, ging ich sofort zu ihm hin und befragte ihn hierüber, worauf er mir in aller Freundschaft versicherte, daß ihm das nicht eingefallen sei und er keinen Grund zu einer solchen Anknüpfung hätte. Dessen ungeachtet schwieg ich nicht aus Besonnenheit, wie gesagt wird, sondern ich ergriff nochmals das Wort, um mich noch etwas deutlicher auszudrücken. Wenn ich dabei sagte, die Sache könne so gut noch fünfhundert Jahre gehen wie nur wenige Jahre, so wird Jedermann die Tragweite des geäußerten Gedankens sofort bemessen können.
Da nun aber auch eine Trinkspruch-Phantasie nicht ein leeres Geschwätz sein, sondern über einem für wahr gehaltenen Gedanken schweben soll, so erlauben Sie mir vielleicht noch den Raum, um diesen Gedanken, der mich allerdings und vielleicht auch andere nicht unehrenwerthe Männer, die an die Zukunft zu denken gewohnt sind, bewegt, kurz anzudeuten. Vor der Hand bin ich, wenn unsere neue Bundesverfassung, wie ich hoffe, angenommen sein wird, noch lange zufrieden mit unserm Vaterlande und seiner Stellung zu der übrigen Welt, und ich gehöre nicht zu denen, welche eine gänzliche Zentralisation befürchten. Vielmehr halte ich dafür, daß die Kantone erst recht Zeit und Gelegenheit finden werden, für den edleren Theil menschlichen Daseins zu sorgen und darin zu wetteifern. Sollte es sich dagegen nicht so verhalten, sollte diejenige Richtung zum Ziele gelangen, welche auch das jetzt Gebotene nur als Abschlagszahlung betrachten und den förmlichen Einheitsstaat einführen, somit den alten Bund mit seinem fünfhundertjährigen Lebensprinzip aufheben will, so halte ich dafür, daß durch das Herausbrechen des eidgenössischen Einbaues der Kantone eine Höhlung entstehen wird, welche die Außenwand unseres Schweizerhauses nicht mehr genug zu stützen im Stande ist; es beruht diese Meinung nicht auf staatsrechtlichen Theorien, sondern auf psychologischen Erfahrungen. Eine im Inneren so ausgeräumte Schweizerrepublik aber würde ihre Kraft und altes Wesen wieder gewinnen, wenn sie in freiem Verein mit ähnlichen Staatsgebilden zu einem großen Ganzen in ein Bundesverhältniß treten könnte, und daß dieses mit Deutschland einmal möglich werden könnte, war eben die Voraussetzung obigen Trinksprüchleins. Wenn ich für einen solchen Anschluß, ein solches Unterkommen in künftigen Weltstürmen mit Vorliebe an Deutschland dachte, so geschah es, weil ich mich doch lieber dahin wende, wo Tüchtigkeit, Kraft und Licht ist, als dorthin, wo das Gegentheil von alledem herrscht. Einstweilen aber wollen wir nicht um des Kaisers Bart streiten.
Ihr achtungsvoll ergebener
Gottfried Keller.»
Die Notiz zeigt, dass Keller kein besonders guter Zeuge ist, wenn es darum geht, gegen die EU schweres Geschütz in Stellung zu bringen. Es ist eben sehr klar, dass das republikanische Prinzip von ihm höher gewertet wurde als der Nationalstaat. Er hatte bei Erfüllung der Grundbedingungen jedenfalls keine Mühe, sich auch andere Konstellationen vorzustellen.
Die Haltung Kellers in dieser Sache ergibt sich auch aus seiner – von ihm betonten – Zugehörigkeit zur deutschen (d. h. deutschsprachigen) Kultur, in der er in der Berliner Zeit zum Dichter gereift ist. Von einer spezifisch schweizerischen Dichtung hielt er wenig.
Was man wirklich – ausser selber denken – von ihm lernen kann, das ist Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft. Moritz Lazarus, der Begründer der Völkerpsychologie und erster Professor jüdischer Herkunft an der Universität Bern, war später in Berlin Zielscheibe antisemitischer Agitation. Ihm schrieb Keller am 20. Dezember 1881 einen denkwürdigen Brief. Lazarus hatte ihm den 3. Band seines Werkes „Das Leben der Seele“ zugesandt. Keller schreibt ihm:
Ich werde den Band in seiner jetzigen Gestalt mir an der Hand des ganzen Werkes anzueignen und mein bescheidenes Verhältnis zu dem Ganzen neu zu befestigen suchen. Inzwischen wünsche ich Dir zu dem siegreichen Abschlusse alles Glück und Wohlergehen.
Das Vorwort erinnert mich freilich an die dünne Kulturdecke, welche uns von den wühlenden und heulenden Tieren des Abgrundes noch notdürftig zu trennen scheint und die bei jeder gelegentlichen Erschütterung einbrechen kann. Ich hätte Dir seinerzeit auch gern für die Vorträge in der Judenverfolgungssache gedankt, war aber damals ungewiß hinsichtlich Deines Aufenthaltes. Allerdings bleibt die Idealität in der Welt bestehen, wenn die Kultur infolge periodischer Gedächtnisalterung der Menschheit auch morgen einbricht, und so wollen wir uns unsere Tage, die uns gegönnt sind, nicht zu sehr verbittern lassen, und ich wünsche Dir einen heiteren und glücklichen Jahreswechsel.
Ich jedenfalls halte das Nachdenken darüber, was uns heute „von den wühlenden und heulenden Tieren des Abgrundes noch notdürftig zu trennen scheint“ für zielführender als das Spekulieren darüber, was Keller zu Ereignissen gesagt hätte, die er gar nicht mehr erlebt hat.
1) Dass Freiheit ästhetisch „begründet“ wird, ist für einen Kenner des Kantianers Schiller, der Keller war, nichts Besonderes.