Die zwei Landesteile Belgiens zanken unaufhörlich miteinander. Wir blicken gönnerhaft auf sie herab, die bei uns doch sehen könnten, was echter Föderalismus ist. Das denken auch die Belgier! Sie beneiden uns um das reibungslose Zusammenleben unserer vier Sprachgruppen und 26 Kantone
Zwei Umstände machen das den Belgiern schwieriger als uns. Unter 26 Kantonen bilden sich wechselnde Koalitionen, zwischen zweien gibt es keine, sie stehen einander konstant gegenüber. Und weltanschauliche und religiöse Gegensätze verschärfen den Streit der zwei Sprachregionen. Bei uns in der Schweiz laufen die Sprach- und die Konfessionsgrenzen durcheinander. Warum gab es nie eine Front „Welschschweiz gegen Deutschschweiz“? Weil es sowohl da wie dort katholische und protestantische Kantone gab, denen die Zusammenarbeit mit ihren Glaubensbrüdern über der Grenze wichtiger war als die gemeinsame Sprache.
Auch unser Föderalismus ist nicht makellos
Heute ist unser Föderalismus vorbildlich. In seiner Geschichte gibt es aber zwei schwarze Flecken. Die zwei Jahreszahlen 1803 und 1847 verdrängen wir aus unserem historischen Gedächtnis. Die Gleichheit der Kantone verdanken wir einem fremden Kaiser, unseren heutigen Föderalismus einem Bürgerkrieg.
Unsere Untertanen!
1515 erhielt die alte Eidgenossenschaft ihre fast 300 Jahre dauernde Form, die „dreizehn alten Orte“ hatten sich in blutigen Kämpfen aus Untertanen zu Freien gemacht und zur Verteidigung dieser Freiheit ein Bündnis geschlossen. Und dann hielten sie sich vier Untertanenkantone! Den Aargau, den Thurgau, das Tessin und die Waadt. Sie liessen sie von ihren Landvögten regieren, sie, die ihre Freiheit gegen den Landvogt Gessler erstritten hatten! Von der Eisenbahn aus sieht man hoch über Lenzburg heute noch eine hybride Burg, zusammengestückelt aus drei verschiedenen Architekturen, mit den Wappen von Zürich, Bern und der Innerschweizer. Von dort aus regierten ihre Landvögte die drei eroberten Teile des heutigen Aargaus. Dass man diesen Untertanen Freiheit und Gleichheit schenken könnte, musste ihnen Napoleon beibringen, nachdem er die Eidgenossenschaft erobert hatte.1803 stellte er in der „Mediationsakte“ die dreizehn Kantone in ihren alten Grenzen wieder her, stellte ihnen aber die vier „Untertanen“ gleichberechtigt zur Seite und auch noch die zwei „zugewandten Orte“ Sankt Gallen und Graubünden, die sie ebenfalls in einem minderen Status auf Distanz gehalten hatten.
Gewaltsame Zentralisierung!
Der zweite schwarze Fleck trägt die Jahreszahl 1847: Wir, das heisst eine Mehrheit protestantisch-fortschrittlicher Kantone, zwangen einer Minderheit von sieben Kantonen des „Sonderbunds“ mit Krieg und Blut und Sieg einen Bundesstaat auf, der ihnen ihre Eigenständigkeit nahm. Das war ein krasser Akt von Zentralisierung. Sie wurde zum Glück unmittelbar danach gedämpft durch die Einführung eines sehr weit gehenden Föderalismus in die Verfassung von 1848. In den besiegten Kantonen herrschten aber noch fünfzig Jahre lang tiefe Ressentiments gegen dieses aufgezwungene Einheitsregime. Erst gegen das Ende jenes Jahrhunderts begannen sie sich in diesem Bundesstaat wohl zu fühlen.
Und Belgien?
Also ein bisschen Bescheidenheit, wenn wir über den belgischen „Sprachenstreit“ herziehen! „Sprachenstreit“ ist übrigens ein schlechtes Wort. Es vereinfacht einen tiefen kulturell-politischen Unterschied zweier Gemeinschaften zu einem blossen Sprachengegensatz.
Wallonien hatte sich zu Napoleons Zeiten der antiklerikalen Weltanschauung der französischen Besetzer in die Arme geworfen, Flandern war bis 1950 katholisch-königstreu. Seither hat sich dieser Gegensatz ins Gegenteil verkehrt: Auch die Flamen gehen immer weniger in die Kirchen, die Thronbesteigung Filips langweilte sie – und die Wallonen mussten entdecken, dass sie wirtschaftllich immer schwächer und finanziell von den Flamen abhängig wurden. Heute verteidigen sie Monarchie und Einheit, nur die flämischen Beiträge im nationalen Budget, welches viel mehr Gesundheits- und Sozialleistungen an Wallonen verteilt als an Flamen, halten Wallonien über Wasser. Diesen finanziellen Erwägungen ist die Bekehrung der Wallonen zur Einheit Belgiens geschuldet, nicht der Überzeugung.
Die Wallonen sind nicht etwa faul oder unfähig, der Niedergang ihrer Wirtschaft ist einer übermächtigen Wellenbewegung der internationalen Wirtschaftskonjunktur geschuldet. Die Globalisierung zog viele ausländische Investitionen nach Flandern, weil es am Meer lag, und bescherte ihm dank Antwerpen, dem drittgrössten Hafen Europas, Transittransporte weit nach Europa hinein, während die wallonische Kohlenidustrie wie diejenige ganz Europas verschwand und die Stahlindustrie drei Viertel ihrer Arbeitsplätze verlor. Hunderttausende.
Die Hypothek der Vergangenheit
Aber die Krise des Föderalismus hat einen noch tieferen Grund, für den die Belgier auch nicht viel können: ihre Vorgeschichte bis zur Gründung ihres ersten Staates 1830. Sie waren vorher nie selbständig, hatten nie lernen müssen, Politik zu machen. Sie können es heute noch nicht, das, ja, kann man ihnen vorwerfen. Aber die in den Jahrhunderten vorher erworbene Gewohnheit sich planlos durch alles durchzuwursteln hat sich zu einer Art Volkscharakter entwickelt. Fast alle andern Völker haben in Jahrhunderten, zuerst mit Gewalt und dann demokratischer gelernt, wie man sich regiert, wir Schweizer fünfhundert Jahre lang. Die Belgier nicht, es sagten ihnen immer fremde Herren, wie sie zu leben hatten.
Geschichte Belgiens, mit Schweizer Einsprengseln
Bis 1830 gab es kein Belgien. Was heute Belgien genannt wird, das waren im Mittelalter sechs südliche Provinzen der Vereinigten Niederlande. Dessen „Siebzehn Provinzen“ gehörten im Spätmittelalter zum Burgunderreich Karls des Kühnen. Ihn erstach in der Schlacht von Nancy 1477 ein unbekannter Eidgenosse, der Schweizer mit dem grössten Einfluss auf die Geschichte Europas: Karl hatte noch keinen Sohn, und so erbte der Nachkomme einer “Schweizer“ Adelsfamilie, der Habsburger Maximilian I., die Niederlande mitsamt vielen burgundischen Territorien, weil er Karls Tochter Maria geehelicht hatte. Karls Tod in seiner letzten Schlacht gegen die Schweizer und diese Heirat brachten Europa einen der grossen Wendepunkte seiner Geschichte: das Ende des Traums von einer „dritten Macht“ zwischen Deutschland und Frankreich und den Aufstieg der Habsburger zum mächtigsten Herrscherhaus.
Maximilians Enkel Kaiser Karl V., der inzwischen auch noch Spanien geerbt hatte, teilte dieses zu gross gewordene Reich in zwei. Die Niederlande vererbte er samt Spanien einem seiner Söhne. Das war der Anfang Belgiens, denn im 80jährigen Kampf gegen die protestantischen Niederländer konnte Spanien 1648 nur den Süden halten, und daraus wurde viele Jahre später Belgien. Es wurde von den Spaniern in den Katholizismus gezwungen, dann wieder österreichisch und kurz vor 1800 von den französischen Revolutionären erobert.
Erst in jener Epoche wurde der Begriff „Belgien“ erfunden, ein künstlicher Versuch, die erwachenden Gefühle man sei etwas eigenes mit einem Namen zu benennen. Man fand ihn vor 1800 Jahren in der Antike: In seinen Kriegsmemoiren nennt Cäsar den ungefähr dort hausenden Stamm der Belgier „die tapfersten aller Gallier“. Heutige Belgier zitieren diesen Spruch nur noch ironisch. Als sich dann aber am Wiener Kongress 1815 die Holländer dieses „Belgien“ einverleibten, um die Vereinigten Niederlande des Mittelalters wiederherzustellen, ging es nur fünfzehn Jahre, bis die katholisch-lebenslustigen Belgier von diesen Calvinisten genug hatten und sie 1830 in einem kurzen Aufstand zum Teufel jagten.
Zur Selbständigkeit gezwungen!
Sie waren aber der Selbstregierung so entwöhnt, dass sie keine Lust hatten, unabhängig zu werden! Die Notabeln, welche sich zu einem „Nationalkongress“ konstituierten, wollten eine Monarchie und wählten den Duc de Nemours zum König. Den zweiten Sohn des neuen französischen „Bürgerkönigs“ Louis Philippe! Dass Belgien früher oder später Frankreich einen Gebietszuwachs bescheren werde, ertrugen die europäischen Grossmächte 15 Jahre nach der Niederringung Napoleons nicht, selbst Louis Philippe nicht. Grossbritannien, Preussen, Habsburg und Russland zwangen die Belgier zur Wahl eines deutschen Kleinstaatenprinzen, Leopold I. von Sachsen-Coburg. Und Belgien, anstatt sich weiter fremden Mächten anzuvertrauen, musste sich selbst regieren.
Der erste Schritt war gar nicht schlecht, die Notabeln schrieben sich die damals demokratischste Verfassung Europas, die Leopold vor der Annahme des Königtums zögern liess. Aber es war der dümmste Moment, um ihr auch etwas Föderalistisches mitzugeben. Es gab in Europa weder eine föderalistische Staatslehre noch föderalistische Vorbilder, auch die Schweiz war erst ein Staatenbund. Phantasie- und alternativlos wurde Belgien zentralistisch, mit einer zentralen Regierung und einer zentralistischen Verfassung.
Flanderns Nationalismus
Und dass es zwei Sprachgebiete gab, spielte überhaupt keine Rolle, denn 1830 hatten sie einen völlig verschiedenen Status. Flämisch war die Bauern- und Arbeitersprache, in so viele Mundarten zerstückelt wie in der Schweiz. Französisch war jedoch nicht nur die Sprache der Wallonen, sondern der Eliten im ganzen Land, auch in Flandern wie im Bern und Berlin des Ancien Régime. Die Hochsprache der Holländer kam erst viel später nach Flandern. Sie war ja auch nicht nötig, Fabrikanten, Vorarbeiter, Gutsbesitzer, Politiker, Offiziere, Patrizier hatten ja das Französische. Flämische Eliten gab es nicht mehr denn, Protestanten wie alle aufständischen Niederländer, waren sie vor den Spaniern ins befreite Holland ausgewandert und liessen in Flandern nur einfache, unpolitische Leute zurück.
Gegen das Ende des 19.Jahrhunderts merkten dann flämische Dichter, Intellektuelle und Schulmeister, dass Flandern eine eigene Identität hatte. Der Kampf für deren Anerkennung dauert bis heute, hat aber nicht zu einem belgischen Föderalismus geführt. Ihren nationalistischen Rausch haben die Flamen bis jenseits des Punktes getrieben, wo sie mit den Französischsprachigen des Landes ein politisches Gleichgewicht hätten suchen müssen. Bis heute knabbern sie dem Zentralstaat einfach eine Kompetenz nach der anderen ab ohne zu fragen, ob die ihm verbleibenden noch einen Zusammenhang haben. Wallonen und Brüsseler wollten natürlich die gleichen Kompetenzen und sind im Zug der sechs Staatsstruktur-Kompromisse seit fünfzig Jahren ebenfalls autonome Regionen geworden.
Das Drama Belgiens
In dieser Epoche hätten die beiden Sprachgruppen den Föderalismus entwickeln müssen, taten es aber nicht. Ein gemeinsames Dach über ihren autonomen Regionen zu zimmern, dieser Gedanke kam weder Flamen noch Frankophonen. Ohne Blick aufs Ganze gibt es aber keinen Föderalismus. Das ist das Drama Belgiens.
Die Millionen-Enklave
Von 1850 bis 1950 entstand auch noch die grösste Crux des heutigen Belgiens: die Millionenstadt, die eine andere Sprache spricht als ihre Umgebung. Brüssel liegt vollständig in Flandern! An seinem südlichen Rand weniger als 10 Kilometer von Wallonien entfernt, aber getrennt durch einen schmalen flämischen Streifen, den die Flamen mit der Einschnürung Brüssels zu einer bis zum letzten Quadratkilometer definierten Region vehement verteidigen. Brüssel war seit altersher eine flämische Stadt gewesen - „Brüssel“ = „Bruchsal“! Doch da es als Hauptstadt viele höhere Posten versprach, begannen seine Flamen ab 1850 ihre Kinder in französischsprachige Schulen zu schicken, weil das den sozialen Aufstieg garantierte. Um 1900 war die flämische Stadt mehrheitlich frankophon geworden und ist es heute zu 90 Prozent. Das wird wohl sogar die fanatischsten Flamen abschrecken, sich von Belgien zu trennen, denn dann würden sie die 10 Prozent Landsgenossen der frankophonen Brüsseler Mehrheit ausliefern, die im Zug der von ihnen durchgedrückten Regionalisierung Belgiens zu einer selbständigen Region geworden ist.
Kompromiss: ein Schimpfwort!
Zurück zu Belgien! Die Belgier nennen ihren nationalen Staat jetzt „l’Ètat fédéral“, aber von Föderalismus kann keine Rede sein. Die Schweizer hat eine lange Erfahrung gelehrt, dass gutes Zusammenleben nur mit Kompromissen möglich ist, in Belgien ist „Kompromiss“ ein Schimpfwort! „Encore un compromis belge!“ jammern die Kommentatoren, wenn die flämischen und frankophonen Parteien nach monatelangem Seilziehen über eine Kleinigkeit einig geworden sind. Ihre Anhänger reden nicht davon, was sie gewonnen haben, nur was sie hergeben mussten, und wählen das nächste Mal die Demagogen der Opposition, die ihnen das kompromissloser Fordern der Maximalziele versprechen.
Was Belgien rettet
Zum Glück sind die Belgier unterhalb der politischen Ebene friedlich, gutmütig und pragmatisch, voll „Bonhomie“. Es gab im Sprachenstreit nie einen Toten. Als einmal 3000 flämische Demonstranten die Brüsseler Gemeinde Schaerbeek erobern wollten, weil sie die Schalter im Gemeindehaus in 8 französische und 2 flämische unterteilte (flämischer Aufschrei „Apartheid!“), wurden sie an der Gemeindegrenze von 3000 aus allen Brüsseler Gemeinden zusammengetrommelten Gendarmen aufgehalten. Zwei Stunden stand man sich kriegerisch gegenüber, dann schlossen Polizisten mit den Demonstranten einen Pakt: Ihr dürft 50 Meter vormarschieren. Das taten die Flamen und kehrten triumphierend in ihre flämischen Beizen zurück mit dem Schlachtruf „Wir haben Schaerbeek erobert!“ Politisch ist Belgien unregierbar, im Alltag merkt man nichts davon.