Bei allem Humor: Sasha Filipenkos im vergangenen Jahr erschienener Roman «Der ehemalige Sohn» zeichnet ein bedrückendes Bild von Belarus. Und ist eines der Bücher, die man jetzt lesen sollte.
Im Juli 1999 bin ich zusammen mit anderen Schweizer Journalisten von der Organisation «Green Cross» nach Weissrussland eingeladen worden, wie das heutige Belarus damals hiess. Wir besuchten Heime, in denen Kinder und Jugendliche sich erholen konnten, die durch das Reaktorunglück in der benachbarten Ukraine strahlengeschädigt worden waren. Und wir warfen einen Blick auf dieses Land, in dem schon damals Alexander Lukaschenko das Sagen hatte. Zwei junge Leute hatten die Führung übernommen, eine Frau und ein Mann. Die Frau, zuständig für unseren Trip auf das Land, trauerte noch der Sowjetzeit nach. Der Mann hingegen, der uns die Hauptstadt Minsk zeigte, zählte sich zu jener Opposition, die schon damals regelmässig gegen Lukaschenko demonstrierte. Er sprach fliessend deutsch, war freundlich und weltoffen.
Eine düstere Erzählung voller Humor
Dieser Mann, dessen Namen ich vergessen habe, stand mir vor Augen, als mir in Sasha Filipenkos Roman «Der ehemalige Sohn» dessen Held Franzisk Lukitsch begegnete. 2014 hat der in Minsk geborene und in St. Petersburg lebende Filipenko dafür einen der angesehensten russischen Literaturpreise bekommen, vergangenes Jahr nun ist «Der ehemalige Sohn» endlich auch auf Deutsch erschienen. Mit einem Vorwort, in dem Filipenko mit blitzender Ironie die Geschichte seines Buchs rekapituliert.
Es habe neben Lob auch viel Kritik gegeben, erzählt er. «Der häufigste Vorwurf lautete kurz und bündig: So etwas gibt es nicht.» Doch «zum Glück oder zum Unglück» hätten die Ereignisse von 2020 «wieder einmal gezeigt, dass ich bei meiner Beschreibung des ins Koma gefallenen Belarus ehrlich mit mir selbst und mit meinen Lesern war». Dieses Buch, das in den meisten Minsker Buchläden nur unter der Hand erhältlich sei, stelle den Versuch dar, «zu analysieren, warum mein Land eines Tages in einen lethargischen Schlaf sank, aus dem es scheinbar gar nicht wieder aufwachen wollte». Und in den es, nach den Demonstrationen gegen die manipulierte Wiederwahl Lukaschenkos, nur mithilfe des grossen Bruders Russland wieder versenkt werden konnte.
So ist «Der ehemalige Sohn» beides zugleich: deprimierend und hoffnungsvoll. Und, weil die Hoffnung doch die stärkere, anziehendere Kraft ist, bei aller Düsternis doch voller Humor, der manchmal bitter, dann aber wieder erfüllt ist von beissender, aber leichtfüssiger Ironie – und immer entlarvend. Wie etwa in jener kurzen Szene, die sich in einer Bank ereignet, wo Franzisks Grossmutter gerade ihre Geschäfte erledigt hat:
Die schläfrige Bankbeamtin händigte die Quittungen aus und sagte monoton:
«Einen Lottoschein?»
«Was, einen Lottoschein?»
«Nehmen Sie einen?»
«Wieso?»
«Dann können Sie sich eine Wohnung kaufen …»
«Ich hab eine Wohnung …»
«Na dann … eine Datscha …»
«Ich hab eine Datscha …»
«Dann halt ein Auto – ich weiss auch nicht …»
«Ich hab ein Auto …»
«Was haben Sie denn nicht?»
«Freiheit …»
«Bei uns sind alle verdächtig»
Die Grossmutter hütet einen Schatz: Es ist ihr Enkel, der ein aufgeweckter, aber mittelmässiger, weil zum Üben zu fauler Schüler des Konservatoriums ist, als ihn auf dem Weg zu einer Verabredung mit seiner Freundin Nastja eine durch ein Gewitter erschreckte Menschenmenge beinahe zu Tode quetscht. Der Sechzehnjährige kommt ins Spital, wird von den Ärzten ziemlich rasch als «Gemüse» bezeichnet, das schon bald sterben werde. Doch Franzisk stirbt nicht.
Neun Jahre liegt er im Koma, und wie eine Löwin verteidigt die Grossmutter ihn, während die Mutter, mittlerweile liiert mit dem Chefarzt, Franzisk gerne los hätte. Jeden Tag kommt Babuschka ins Spital, erzählt ihrem Enkel, was gerade so läuft, und liest ihm vor. So erfährt Franzisk auch von der Beerdigung eines Dichters, die sich zur Demonstration gegen den Diktator entwickelt und die von dessen wütenden Schergen mit Gewalt niedergeschlagen wird. Einmal kommen Beamte vorbei. Nach einem Bombenanschlag nehmen sie allen männlichen Einwohnern des Landes die Fingerabdrücke ab. Dass Franzisk im Koma liegt, kümmert sie nicht. «Bei uns sind alle verdächtig … ausser …», sagt der Beamte, während sein Blick das Bild des Staatspräsidenten streift.
Als Franzisk dann nach Grossmutters Tod aus dem Koma erwacht, hat Belarus sich fast gar nicht verändert. Mit Freund Stassik geht er ins Café, dessen Tische verwanzt sind. Und im Hof spielen die Kinder «Proteste zerschlagen»: Die einen sind Polizisten und dreschen mit Stöcken auf jene ein, «die das Los gezogen hatten, Oppositionelle zu sein».
So ist «Der ehemalige Sohn» ein Buch zur Stunde. Es zeigt, worum es in jenem Kampf geht, den die Ukrainerinnen und Ukrainer gerade führen und in dem sie mit ihrem Blut bezahlen. Es ist ein Kampf, der auch dem ewigen Diktator Lukaschenko Angst einjagen dürfte.
Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn. Diogenes Verlag, 2021