Die bekannteste belarussische Intellektuelle, die 72-jährige Nobelpreisträgerin Swetlana Aleksijewa, hat in der vergangenen Woche eine kurze bewegende Erklärung veröffentlicht, die auf der Webseite des belarussischen PEN-Club publiziert wird. Die Schriftstellerin, die für ihre auf einer Vielzahl von Interviews beruhenden Collagen über sowjetische und postsowjetische Gesellschaftsrealitäten 2015 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, gab bekannt, dass inzwischen das Präsidium des Koordinationsrates für die Protestdemonstrationen gegen das Lukaschenko-Regime nicht mehr funktionstüchtig sei. Alle Mitglieder sässen jetzt im Gefängnis oder seien zur Flucht ins Ausland gezwungen worden.
«Wir sind doch immer noch eure Brüder»
Die Demonstranten in ihrem Land wollten keinen Umsturz, betont die Autorin. Sie wollten einen Dialog. Aber Lukaschenko sage, er sei nicht bereit, «mit der Strasse» Gespräche zu führen. Doch «es ist nicht die Strasse, es ist das Volk», das sich erhebt, heisst es in der Erklärung.
Dann wendet sich Swetlana Aleksijewa mit einigen Sätzen an die russische Intelligenz: «Wir hören nur selten Stimmen der Unterstützung. Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, dass sie ein kleines stolzes Volk zertreten? Wir sind doch immer noch eure Brüder.»
Dieser Aufruf ist zumindest in Teilen der russischen Intelligenz nicht ungehört verklungen. Auf der belarussischen PEN-Webseite sind inzwischen acht Antworten von Schriftstellern und Übersetzern nachzulesen. Doch es gibt Hinweise, dass im Internet und andern Foren in Russland eine Reihe weiterer Solidaritätserklärungen mit den Demonstranten in Russland zirkulieren.
Die prominenteste der russischen Stimmen, die auf die bittere Erklärung der belarussischen Nobelpreisträgerin antworten, gehört der russischen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, deren Bücher und Erzählungen in zahlreichen Sprachen erschienen sind. Ihr jüngster Roman heisst «Die Jakobsleiter» und ist ein erschütterndes Familienpanorama, eingebettet in die sowjetisch-russische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Stellungnahme beginnt mit folgenden Worten: «Belarus erlebt heute das, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch Russland in einiger Zeit wird erleben müssen. Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell unserer nahen Zukunft. Und zwar ein gutes Modell.»
«Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe»
Es habe sich gezeigt, schreibt Ljudmila Ulitzkaja, dass «ein ruhiges und, wie uns immer schien, recht träges Volk auf den unheilvollen Appetit des Regimes, verkörpert von einem völlig unfähigen Diktator, sehr wachsam reagiert.» Die belarussischen Bürger «reagieren sensibler auf die Unmoral und Schamlosigkeit des Regimes», schreibt Ulitzkaja weiter. «Die eigene Würde überwiegt nun Trägheit.»
Sie und ihre Freunde und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gebe, erklärt die russische Autorin, «verfolgen höchst gespannt die Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen.» Sie schliesst mit folgendem Gruss an die belarussische Nobelpreisträgerin: «Ich wünsche dir, dass du in einem Land lebst, das frei ist von einem dummen und ekelerregenden Regime. Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.»
Die andern auf der Webseite des PEN-Club Belarus publizierten russischen Antworten auf den Aufruf von Swetlana Aleksijewa sind in ähnlichem Ton gehalten. Einige davon kritisieren mit besonderer Schärfe die Unterstützung, die die russische Regierung dem Diktator Lukaschenko im Kampf gegen die Demonstranten angedeihen lässt. Viele unter uns, schreibt etwa der russische Philologe Oleg Lekmanow, schämten sich dafür, dass es ihnen nicht gelinge, im Unterschied zu den Intellektuellen in Belarus, das Volk zu überzeugen, dass man sich nicht länger mehr «mit jener Willkür abfinden sollte, die das arme, versklavte, leidende Russland lenkt».
«Nur Sklaven» können Lawrows Worten glauben
Die Übersetzerin Natalija Mawlewitsch schreibt: «Wir schweigen – genauer wir reden in der Einsamkeit, zu Dutzenden gehen wir zur belarussischen Botschaft mit weiss-rot-weissen Fähnchen (der offiziellen Flagge des freien Belarus), zu Hunderten unterschreiben wir Briefe zur Unterstützung von Belarus, aber das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund des tödlichen Schweigens der russischen Gesellschaft und der schamlosen, lügenhaften Macht.» Weiter heisst es in diesem Schreiben: «Nur Sklaven können den Worten von Aussenminister Lawrow über ‘ausländische Einmischung’ glauben und über die angebliche Notwendigkeit, ‘die belarussische Führung’ zu unterstützen.»
In der Stellungnahme der russischen Poetin Olga Sedakowa heisst es unter anderem: Es graue einem beim Gedanken daran, dass unsere eigene Regierung sich mit dem tyrannischen Lukaschenko-Regime verbündet. Diese Machthaber «beschliessen alles im Geheimen», auf «unsere Meinung hört niemand und darum kümmert sich niemand. Das kann zur Verzweiflung führen».
Wie denkt die Mehrheit?
Gewiss, diese Stimmen, die so offen und vehement ihre Bewunderung für die belarussischen Protestbewegung zum Ausdruck bringen, sind nicht repräsentativ für die Mehrheit der russischen Bevölkerung, was in den zitierten Stellungnahmen ja auch deutlich ausgesprochen wird. Die Mehrheit dürfte entweder der vom Putin-Regime in verschiedenen Varianten verbreiteten Meinung zuneigen, dass die Massendemonstrationen gegen Lukaschenko irgendwie vom Ausland – namentlich von der EU und den USA – angezettelt werden. Oder aber der russische Durchschnittsbürger nimmt die Nachrichten von den Vorgängen im westlichen Nachbarland mehr oder weniger gleichgültig und achselzuckend zur Kenntnis.
Dennoch sind diese freimütigen Stellungnahmen russischer Schriftsteller und Übersetzerinnen zum Solidaritätsaufruf der belarussischen Nobelpreisträgerin nicht ohne Gewicht. Sie dürften gerade in Kreisen der russischen Intelligenzija zu bewegten Diskussionen Anlass geben, die allerdings in den vom Kreml weitgehend kontrollierten Medien kaum Wiederhall finden werden. Dass man in dieser heterogenen Gesellschaftsschicht die Vorgänge im westlichen Nachbarland, das historisch und kulturell noch enger als die Ukraine mit Russland verknüpft ist, besonders aufmerksam und interessiert beobachtet, daran ist kaum zu zweifeln. Putin und seine Geheimdienste werden das auch wissen.