Im Gespräch mit dem Kunsthistoriker Simon Schama ("Financial Times") führte die englische Filmemacherin und Künstlerin Tacita Dean vehemente Klage darüber, dass ein grundlegendes Material ihrer Arbeit bald nicht mehr zu beschaffen sei.
Die so genannten Gesetze des Marktes bewirken, dass die Produktion von 16mm-Filmen eingestellt wird: «Very soon, maybe, I won’t be able to make my work if they have their way. It’s as if Rembrandt received a letter informing him that as of next week oils would no longer be available … but not to worry, since acrylic would do the job just as well.» (Nachzulesen unter: http://www.ft.com/intl/cms/s/2/b94bfcb4-e973-11e0-af7b-00144feab49a.html#axzz1fZv1Vwfe )
Tacita Dean ist keine Puristin, sie hat genügend Erfahrung mit eigenen digital produzierten Filmen, besteht aber auf einem Unterschied: «You watch it differently, you handle it differently, you experience it differently.»
Man wird das später als eine von vielen Stimmen in einem Chor der Abgesänge verstehen, in denen die Verluste nach dem Siegeszug der Digitalisierung noch einmal emphatisch aufgerufen wurden. Die unbestreitbaren Vorzüge von Vinyl als Träger musikalischer Aufnahmen. Die nur durch ausgeklügelte Chemie bewirkten Lichtwirkungen auf Zelluloid.
«Sie verkaufen Buchimitate!»
Bei den Büchern hat die Klage erst begonnen. Auf der Produzentenseite können Verleger meist gar nicht mehr mitreden, sie sind zu selten an Druckmaschinen gestanden, haben die Entscheidung über Papiersorten an ihre Hersteller delegiert, und was Bindereien leisten können, ahnen sie meist nur. Den meisten fehlen technische Erfahrung und die Worte, um zu beschreiben, was durch den Weggang der Schrift vom Papier verloren gehen wird. Der fast einzige weiße Rabe in der Branche, Gerhard Steidl, der vom handwerklich ausgefuchsten Drucker zum erfolgreichen Verleger wurde, ist wegen seiner Prinzipientreue zum Darling des Feuilletons avanciert; dort argumentiert er zuweilen wie ein Katholik, der hinter die Neuerungen des letzten Konzils zurück möchte.
Die Fortschritte der Chemie bei Klebebindungen interessieren ihn nicht – für Steidl gehören Bücher ohne Fadenheftung und Leineneinband nicht zur ecclesia sancta. Seinen Kollegen, die er wohl bereits auf dem Weg zur Profitmaximierung durch E-Books sah, hat er in einem Interview im Juni 2010 nachgehöhnt: «Die haben es leicht, sich vom Buch zu verabschieden. Bücher machen sie ja keine. Sie verkaufen Buchimitate.»
(Die Klagen der anderen Handelsstufen im Buchgeschäft übergehe ich hier. Die Barsortimente, Auslieferungen, Zwischenhändler suchen einigermassen dringlich die seit Jahren rückläufigen Umsätze bei gedruckten Büchern durch andere Waren aufzufangen. Die ersten Grossbuchhändler kollabieren – "Borders", die größte US-Buchhandelskette ist liquidiert. Der größte deutsche Filialist «Weltbild» mit über 300 Buchhandlungen, jahrelang ein Primus der Expansion, steht zum Verkauf; der mit ihm unter einem Konzerndach verbandelte Branchenriese Hugendubel geht einem unguten Jahr 2012 entgegen. Und die Buchsparte «Thalia» des Parfümerie-Konzerns Douglas, bislang die umsatzstärkste Buchkette im deutschsprachigen Raum, verkündet nach einem Umsatzeinbruch, dass künftig nur noch 60% der Ladenflächen mit Büchern bestückt werden.
Das kann eine gute Nachricht für unabhängige Buchhandlungen sein. Kann. Wenn sie im Wettlauf mit den Onlinern jene Kompetenz ausbauen, die den Onlinern abgeht: Traditionswissen, lokale Kundenbindung und ständige, ausgewählte Erweiterung ihrer Novitäten-Kenntnisse.)
«Warum soll man 8 Kilo Papier schleppen?»
Die Buchnostalgiker, zu denen ich mich auch zähle – also: in jedem Sessel und an Betträndern umgeben von Türmchen aus Angelesenem, Aufgeschobenem, Wiederbegonnenem und Geradegekauftem. Aber eben auch schon den halben Tag im Netz, also begierig, kundig, eingedenk der ungeahnten Erweiterungen des Lesens nun durch digitale Darreichungsformen, meistens gratis.
Von den Buchnostalgikern also üben sich einige in schrillen Tönen. Kaum ein Lobpreis des Papierbuchs, in dem nicht die Fremdwörter um das Haptische, das Olfaktorische psalmodiert werden – das trifft dann, wen es je träfe, auf Leser unter 40, die sich entgeistert fragen, warum denn ein Buch riechen müsse, man wolle doch auch sonst nicht, dass etwas «riecht». Und warum man denn 8 Kilo Papier schleppen müsse, wenn in 300 Gramm eines Tablets viel mehr Lesestoff mitgenommen werden könne.
Als eine Firma für Bildungssoftware im letzten Sommer amerikanische Studenten befragte, wollte jeder vierte ein Jahr auf Sex verzichten, wenn dafür nur endlich die beschwerlichen Papierbücher auf dem Campus abgeschafft würden. Das ist nur unwesentlich lustiger, als es aus der Phalanx derer tönt, die mit dem Aufkommen der E-Books den menschlichen Geist verschwinden sehen. Der Literaturwissenschaftler Roland Reuss – vor Jahren einer der Hauptgegner der neuen Rechtschreibung – ging in seinem kenntnisreichen NZZ-Essay über die handwerkliche Buchkunst und das in Jahrhunderten erarbeitete ästhetische Wissen so weit, dass er Fachbücher besang, die „stabil und ohne äusserliche Stützung senkrecht auf dem Tisch stehen“ konnten. O jessas, sagte eine gerade auf Besuch weilende Freundin, als sie mir die Zeitung reichte: Männer. Es muss halt stehen.
Vom Farblabor zum Buch
Dies war die Einleitung für die Empfehlung eines Buchs, das als E-Book nicht recht denkbar ist. Es kann viele Ihrer Weihnachtsgeschenk-Probleme aufs Mal lösen. Sie können Ihrer Cousine Paula, die sich als Schriftstellerin versteht, von Farbtönen fasziniert und ständig auf Wortsuche ist, die Freude ihres Lebens machen. Freund Wolfgang, der seit seiner Pensionierung zu malen begonnen hat, kann daraus praktisch brauchbare Kenntnisse in einem Traditionszusammenhang weltweiter Malerei kennenlernen. Für geschätzte Mitmenschen, von denen Sie nicht so recht wissen, was sie wirklich beschäftigt, haben Sie ein fast zwei Kilo gewichtiges, schönes Buchobjekt, von dem sie Ihnen später begeistert erzählen werden.
Wenn Sie aber für Paula schon ein Mützchen gehäkelt haben, Wolfgang einen Gutschein für Bilderrahmen bekommt und die geschätzten Mitmenschen sowieso eher eine hochprozentige Flasche: dann schenken Sie es sich selbst! Sie lernen einen Zusammenhang aus Naturwissen und angewandter Naturwissenschaft kennen und kommen aus der Lektüre mit einem wachsameren Blick auf die Farben in ihrer Welt zurück.
Monochromes Understatement
Den Titel finden Sie nur auf dem Buchrücken: «Farbpigmente. Farbstoffe. Farbgeschichten». Auf dem Cover beginnt alles raffiniert verrätselt, aus flächig dunkel bemaltem Grund erscheinen die Worte «Pfirsichkernschwarz», «Traubenkernschwarz», «Kirschkernschwarz» und «Flammruss». Ein monochromes Understatement: denn die 256 Seiten dieses unterhaltsamen Kompendiums sind in 15 Farben gedruckt, um eine Bandbreite von kühlem Grün bis hin zum Violett sichtbar zu machen. Wie durchaus ganzheitlich ernst den Machern ihr Thema war, wird daran deutlich, dass sie das matt gestrichene Papier mit Ökofarben bedruckt haben.
Es ist ein Buch für Blattwender und für Leser. Die Blätterer werden beim Umwenden der Seiten mit den großzügig gedruckten 86 Tönen von Mineralfarben – von «Bayerische Grüne Erde» bis zum perlmuttweißen «Gofun Shirayuki» – und den paardutzend synthetischen Mineralfarben schon langsamer blättern. All diese Pigmente und Farben sind knapp und sprachlich sorgsam erklärt. Die Blätterer geraten vielleicht erst im Bereich «Natürliche Tier- und Pflanzenfarben» in eine jener listig ausgelegten Angeln in den Farblegenden, die auf exemplarische Fallstudien verweisen. In denen liest man sich dann fest.
Wer sich auf Seite 72 bei «Ultramarinblau» noch nicht zum Kapitel «Farbgeschichten» locken lässt, wo die länderübergreifende Geschichte dieses Lapislazuli bis hin zum Abbau in Afghanistan, der päpstlichen Durchsetzung der Farbe fürs Mariengewand und der Restaurierung des Freskos in Windisch (2006) erzählt wird… … der springt vielleicht erst im Kapitel «Synthetische organische Farben» angesichts der chemischen Struktur von «Irganzin® Rot» auf die S. 227, wo das «Ferrari-Rot» der Formel-1 locker im Kontext der Pigmentforschung nach der Erdölkrise der 70er-Jahre erklärt wird.
«Farbe – eine Wortforelle»
Die süchtigen Leser, wenn sie dieses Buch in die Hände bekommen: Über sie muss nicht viel gemutmasst werden. Sie bleiben schon im aufschlussreichen Anfangstext mit der Wortgeschichte hängen und ahnen bei Überschriften wie «Farbe – eine Wortforelle», welche erfinderische Sorgfalt die Herausgeber auf alle Details verwendet haben. Die vielfache Vernetzung erlaubt aber viele Anfänge. Ich habe mich beim ersten Aufschlagen im Kapitel «Die ersten Farben der Menschheit» verfangen, in einem Bogen also, der vom 27.000 Jahre alten roten Ocker in der Grotte Chauvet bis zur Untermalung des Hauttons mit Grüner Erde in Hans Holbeins Gemälde «Leichnam Christi im Grab» geschlagen wird.
Das umfassende Wissen in diesem Kompendium kommt aus einem Schatz interdisziplinärer Forschung, die im Gewerbemuseum Winterthur vor vier Jahren für eine Ausstellung geleistet wurde. Damals waren im Farblabor immerhin 224 Pigmente zugänglich – das Buch erweitert diese Palette noch einmal um fast die Hälfte.
Es gibt nun auch ein anschauliches Glossar von «Absorbtion» bis «Zinntuben». Wer darin z. B. «Knochenleim» sucht, bekommt nicht nur den Schmelzprozess zur Herauslösung des Glutins erklärt, sondern erfährt auch, dass die Herstellung schon auf einem Grabbild in Theben (vor über 3000 Jahren) dargestellt wurde.
Vermutlich wusste die Filmemacherin Tacita Dean im oben zitierte Vergleich, dass Rembrandt seine Ölfarben nicht gekauft hat. Er hat Pigmente mit Öl angerieben, eine langwierige, aufmerksamkeitheischende Arbeit. Nachzulesen – ein Buch zieht immer ein anderes noch nach – auf S. 67 des neuen Romans von Margriet de Moor, «Der Maler und das Mädchen» (Hanser), es geht dort um «die stumpfen, tiefen Beinschwarztöne, die aus dem gerösteten Abfall des Schlachthauses an der Kromme Waal gewonnen wurden».
Farbpigmente Farbstoffe Farbgeschichten. Herausgegeben von Claudia Cattaneo, Stefan Muntwyler, Markus Rigert, Hanspeter Schneider. alataverlag