Auf einem Sockel der Treppe, die zum Wasser hinabführt, sass im Lotossitz ein Swami in orangefarbenem Lendentuch und posierte für die fotografierenden Touristen, indem er die Arme der aufgehenden Sonne entgegenstreckte. An ihn wandte ich mich mit meiner Frage. Er hielt mir einen Blechteller mit Münzen entgegen. Ich entrichtete meinen Obolus und wiederholte die Frage. Er musterte mich und sagte:
„Ihr Europäer wollt immer gleich eine Antwort haben. Eine Antwort auf dies, eine Antwort auf jenes, fertige Antworten auf fixe Fragen. Fixe Fragen mag es ja geben, aber fertige Antworten?“
„Sie glauben nicht, dass sich Antworten finden lassen?“ fragte ich ihn.
„Schon wieder eine Frage“, entgegnete er tadelnd.
„Natürlich“, sage ich, „ich frage, weil ich wissen möchte.“
„Wissen möchten sie“, sagt er; „wer möchte das nicht? Aber Fragen und Antworten bringen kein Wissen. Sie bringen bloß Kenntnisse. In eurer Bibel las ich, Adam habe Eva erkannt. Was wusste er von ihr, nachdem er sie erkannt hatte?“
Triumphierend rufe ich aus: „Jetzt sind sie es, der Fragen stellt.“
Er nickt und fragt: „Was wissen sie von ihrer Frau, seitdem ihr sie erkannt habt?“ Ich schweige, blicke auf die Pilger am Ufer, die dem Wasser huldigen, sich damit besprengen, ihm Reiskörner und Jasminblüten opfern und ihm so ihr Glück abverlangen.
Ein Inder schritt vorbei und warf eine kleine Münze in den Blechteller des Swami. Dieser blickt ihm missmutig nach und brummt: „Schlechte Zeiten. Die Leute werden geizig, sie denken nur noch an sich selber.“ Dann schweigen wir eine Weile und blicken auf das träg dahinfliessende Wasser. Von meiner ursprünglichen Frage sind wir abgekommen. Vielmehr: Er ist gar nicht darauf eingegangen. Ein Satz aus C. M. Forsters Roman „A Passage to India“ fällt mir ein: „Nichts in Indien ist identifizierbar; die blosse Frage danach bringt es zum Verschwinden oder löst es in etwas anderem auf.“
Nach einer Weile nimmt er das Gespräch wieder auf.
„Ihr Leute aus dem Westen zerteilt die Welt in tausend Einzelteile, analysiert, unterscheidet, katalogisiert und nennt das Ordnung schaffen. Aber eure Ordnung ist voller Widersprüche, und das ärgert euch, weil es unordentlich ist. Ihr wollt immer ein Entweder-Oder. Wir nicht. Wir sehen immer ein Sowohl-als-auch. Nichts schliesst das Andere aus, sogar wenn es damit unvereinbar erscheint. Alles ist miteinander vereinbar, auch das Gegensätzliche; denn alles ist Weltseele, Brahman, die alles erschaffende, alles erhaltende Kraft – ich, Sie, der Tote dort, der dem Feuer anheimgegeben wird, die Flamme, die ihn einäschert, das Holzscheit, das die Flamme hervorbringt und sich dadurch selber zerstört. Alles ist Brahman. Vielleicht seine Träume, vielleicht Emanationen, was weiss ich? Beides ist möglich. Es kommt auf das gleiche hinaus.“
„Nein“, rief ich ärgerlich aus. „Es kommt nicht alles auf das gleiche hinaus. Ihr Inder wollt alles immer gleich gültig haben, so dass euch am Ende alles gleichgültig wird und ihr nicht länger unterscheidet zwischen richtig und falsch, Wahr und Unwahr, Gut und Böse, Gewaltlosigkeit und Mord. Das geht nicht, das darf nicht sein, Unterschiede bestehen, Hans ist nicht Peter und Peter nicht Paul.“
„Richtig“, sagt der Swami, „aber wenn Hans heute lügt und morgen die Wahrheit sagt, so redet beide Mal Hans, und nicht heute Hans und morgen Peter.“
„Selbstverständlich“, sage ich, „Hans hat heute andere Beweggründe als morgen.“
„Nein. Der Beweggrund ist beide Mal der gleiche: sein Selbstinteresse.“
Nach einer Weile des Schweigens fährt er fort:
„Euer Denken bewegt sich linear; es strebt von einem Punkt zum andern, wenn möglich gradlinig. Das unsrige bewegt sich wie bei einer Kugel von jedem Punkt der Oberfläche aus zum Mittelpunkt der Kugel hin. Wesentlich ist der Mittelpunkt.“
Eine Inderin in goldgelbem Sari schreitet wippenden Ganges an uns vorbei. Ich blicke ihr träumend nach.
„Unsere Frauen gefallen Ihnen“, sagt er. „Kommen Sie, ich führe sie an einen besseren Ort.“
Wohin will er mich führen oder verführen? Zum Guten, zum Schlechten hin? „Es kommt auf das Gleiche hinaus“, würde er sagen.
Am herrlichen Sonnentempel in Konarak sind Askese und wollüstige Erotik nebeneinander in Stein gemeisselt.