Auf dem Perron in Wattwil steht eine Gruppe Vermummter. Wanderstöcke und Rucksäcke lindern den ungewohnten, ja fast etwas unheimlichen Anblick. So ganz habe ich mich noch nicht an diesen Anblick gewöhnt. Nicht lange ist es her, dass das Vermummungsverbot in der Politik für rote Köpfe gesorgt hatte. Man lernt in diesen Monaten spielerisch Vorurteile zu entsorgen. Angeblich in Stein Gemeisseltes zerbröckelt über Nacht.
Umso mehr schätzt man dasjenige, was bleibt und an die alten Zeiten erinnert: die Züge und Busse, welche wie eh und je emsig von A nach B fahren, ob voll oder leer, oder die gelben Wegweiser an den Bahnhöfen. In Nesslau-Neu St. Johann, wo der Zug endet und ich zusammen mit andern Wandergerüsteten aussteige, prangt an einem Kandelaber ein ganzes Büschel gelber Pfeile zur Auswahl. Weil der Wetterfrosch tropische Temperaturen angesagt hat, streben die meisten meiner Mitreisenden den in die Höhe führenden Wegen zu, wo sie sich Kühle erhoffen.
Ich hingegen vertraue auf den Schatten in der Schlucht, welche die Thur ins Tal gegraben hat, stecke meine Maske in den Hosensack und putze die vom Atem angelaufene Brille. Auf der Hauptstrasse gehe ich ein Stück talabwärts, am prächtigen Fachwerkhaus „zur Mauer“ vorbei, dessen Gaststube seit vielen Jahren verwaist zu sein scheint, überquere die Luteren und biege etwas später links zum ehemaligen Benediktinerkloster Neu St. Johann ab.
Die Schienen der Toggenburg Bahn führen nahe an der Klosterkirche vorbei. Dahinter liegen die alten Klostergebäude und eine moderne Gärtnerei, Teile des 1902 gegründeten Johanneums, eines „Ankerpunktes für Menschen mit einer geistigen Behinderung oder einer Lernbehinderung”, wie ich auf der Webseite der Institution lese. Das Gelände wirkt verlassen. Die Zeit schiene hier still gestanden zu sein, würde da nicht mitten im Park ein riesiger Baumstrunk aufragen, der uns daran erinnert, dass auch die Mächtigsten dem Lauf der Zeit und damit der Vergänglichkeit nicht entrinnen werden.
Als ich mich der Thur nähere, sticht mir jener unverkennbare Geruch in die Nase, den ich als frischgebackener Forscher beim Wasserforschungsinstitut Eawag auf Exkursionen in die Zürcher Kläranlage Werdhölzli kennengelernt hatte, der süsslich-modrige Duft, der aus dem blubbernden Belüftungsbecken der ARA aufsteigt und, wie mir einst ein Klärwärter sagte, süchtig machen kann.
Soweit lasse ich es nicht kommen, überquere die Thur und folge ihr abwärts. Ein Wäldchen spendet Schatten. Zwischen den Zweigen wird der schmale Turm der Kapelle sichtbar, die an der oberen Spitze einer kleinen Flussinsel steht. Eine gedeckte Holzbrücke führt hinüber, aber ein Schild mit der Aufschrift „Privatbesitz Johanneum“ veranlasst mich, auf eine Besichtigung der Inseli-Kapelle zu verzichten.
Ein Stück flussabwärts sucht sich das auffallend klare Wasser (die Duftnote der ARA hat auch ihre positive Seite!) seinen Weg zwischen grossen Nagelfluhplatten. Es bildet kleine Tümpel, welche mich an die Pazifikküste im südkalifornischen La Jolla erinnern, wo wir vor Jahrzehnten als junge Familie ein unvergessliches Jahr verbracht hatten.
Etwas später beginnt sich die Thur immer tiefer in den Talboden einzufressen. Der Wanderweg führt in vielen Kurven und im steten Auf und Ab entlang der linken Kante der Schlucht. Vor der Station Krummenau wechselt er auf die rechte Talseite.
Unübersehbar thront beim sogenannten Trempel ein grosses, quer stehendes Fabrikgebäude auf einem Felsvorsprung. Auf einer Tafel lese ich die mahnenden Worte: „Wasser, das schon vorbeigeflossen ist, kann man nicht mehr nutzen.“ – Ob dies, das Wort „Wasser“ durch „Gelegenheit“ ersetzt, wohl das Motto der Bewohnerinnen und Bewohner dieser Talschaft ist?
Tatsächlich hat hier Natur ideale Verhältnisse für die Nutzung der Wasserkraft geschaffen. Hinter der Engstelle fällt der Fluss mehr als zwanzig Meter in die Tiefe. Schon 1850 wurde das Wasser zum Betrieb einer Textilfabrik genutzt. Seit dem Jahre 1924 wird elektrischer Strom produziert. Nach der Erneuerung des Kraftwerkes (2007) liefert dieses nun ca. 8 Mio. Kilowattstunden pro Jahr, was dem Verbrauch von rund 2000 Haushaltungen entspricht.
Wie ich später im Internet lese, befindet sich heute im einstigen Fabrikgebäude ein Kultur- und Gewerbezentrum. Dazu gehört auch der Kraftwerk Club, der auf Facebook für sein Night-Club-Programm wirbt. Aber jetzt, um zehn Uhr in der Früh, wirkt alles verlassen. Nur eine Skulptur vor dem Gebäude erinnert an das Kulturzentrum, ein kauernder Mensch, der von einer unsichtbaren Gefahr Schutz zu suchen scheint.
Auf der Rückseite des Gebäudes führt die mächtige Druckleitung zum Maschinenhaus hinunter, flankiert von einer steilen Treppe, auf der ich zum Fluss gehe. Bis zum Bahnhof von Ebnat-Kappel wäre es nur noch knappe fünf Kilometer, alles dem Fluss entlang und bergabwärts. Aber ich hätte die Karte genauer studieren sollen: Tatsächlich gleicht der Weg einer Achterbahn. Einmal geht es auf steiler, mit alten Bahnschwellen gebauter Treppe hinunter zum Fluss, dann wieder aufwärts an den Rand der Geländekante, welche die Schlucht von den Wiesen trennt, auf denen weidende Kühe ihre Glocken bimmeln lassen.
Auch wenn mir die Hitze zunehmend zu schaffen macht und ich ins Schwitzen komme – es ist traumhaft. Wieder einmal staune ich, was sich an landschaftlichen Schönheiten auf kleinstem Raum verbirgt, Kostbarkeiten, an denen man als Bahn- oder Autofahrer oft achtlos vorbeifährt. Auf beiden Seiten der Schlucht stehen in der hügeligen Landschaft alte Bauernhäuser, welche beim Städter romantische Gefühle und den Wunsch zum Verweilen wecken.
Da kommt mir Ulrich Bräker in den Sinn, „Der arme Mann im Tockenburg“, Kleinbauer, Baumwollspinner, Weber und Ferger, geboren 1735 auf einem kleinen Bauernhof bei Krinau oberhalb von Wattwil. Seine Autobiografie erzählt von der Kehrseite der Romantik, vom harten Kampf gegen das Verhungern. Bräker und seine Zeitgenossen müssen dieses Tal mit ganz anderen Augen gesehen haben. Und nicht nur sie. Die Schwärmerei über das Schweizer Bergbauerntum ist eine Erfindung der Städter, welche wenig mit der Realität zu tun hatte.
Es ist nur fünfzig Jahre her, zwei Generationen also, als ich im Militärdienst in Chur einen Soldaten aus dem Prättigau kennen lernte, einen Bergbauern, der, wie er mir sagte, erst zum dritten Mal in der Bündnerischen Hauptstadt weile und noch nie bis Zürich gekommen sei. Die reiche Schweiz, mobil bis ins hinterste Tal – wie schnell man sich an dieses Bild gewöhnt hat, gerade in diesem Sommer, in dem viele „ihre Malediven“ erstmals auch im eigenen Land kennen lernen.
Jäh wendet sich der Weg nach unten und weckt mich aus meinen Träumereien. Im Zickzack nähere ich mich wieder der Thur. Am Ufer treffe ich zwei Familien beim Picknicken, die ersten Menschen seit fast einer Stunde. Da kann ein Autoparkplatz nicht weit sein, vermute ich.
Und tatsächlich, durch die Bäume sehe ich eine Strasse, welche zu einer Holzbrücke führt. Auf einer Kiesbank im Fluss hat sich eine Familie niedergelassen, ein Paddelboot liegt angebunden im Wasser. Das kleine Strässchen führt an der linken Talseite zum Brandholz hinauf. Das Restaurant Blume sei geöffnet, verkündet ein Schild, aber ich widerstehe der Verlockung. Es soll am Nachmittag 35 Grad werden, also will ich rechtzeitig in Ebnat-Kappel den Zug für die Heimfahrt erreichen.
Noch einmal geht es treppauf und -ab, dann führt mich der Weg, vorbei am nächsten Kraftwerk, zur Hauptstrasse. Als ich auf die Kirche von Ebnat-Kappel zugehe, beginnen die Glocken zu läuten. Es ist elf Uhr. Der Knabe Ulrich Bräker, der irgendwo am steilen Hang Ziegen hütet, hätte jetzt ein trockenes Stück Brot aus der Tasche gezogen. Vielleicht hätte es ein Stück Käse dazu gegeben oder im Herbst einen Apfel, den er sich beim Aufstieg heimlich von einem Baum gepflückt hat.
Hätte er sich vorstellen können, dass man dereinst ohne Anstrengung und in kürzester Zeit im Zug oder im Auto in sein Tal kommen würde, nur um ein paar Stunden zu wandern und am Schluss mitten im Sommer aus einer farbigen Truhe, die weder aus Holz noch aus Eisen gemacht ist, zur Abkühlung etwas Gefrornes nehmen kann? – Was wird wohl in zweihundert Jahren über unsere Zeit geschrieben und gedacht werden? Sind unsere Nachfahren dann kulturell so weit weg von uns Heutigen wie es Ulrich Bräker von uns ist?
Alle Fotos: Dieter Imboden