Da sitzt jemand im ruhigen und sauber aufgeräumten Zimmer am Arbeitstisch, tunkt den feinen Pinsel in die Tusche, setzt ihn aufs Papier und zieht mit ruhiger Hand und mit Bedacht Linie neben Linie. Hier sind sie schmaler, dort breiter, sie sind heller oder dunkler, sie überschneiden sich, lassen grössere Zwischenräume frei, sie verwerfen und wellen sich. Man glaubt zu spüren, wie die Hand den Pinsel in einer Atmosphäre konzentrierter Meditation in sanftem Rhythmus über das Blatt führt und wird so Zeuge einer organischen Handbewegung, die den Linien den Charakter eines weichen und konstanten Flusses gibt. Dieser Fluss lässt die weisse Papierfläche zum atmenden Raum werden.
Diese vor rund drei Jahren entstandenen Blätter und viele weitere Zeichnungen sind im Kunstmuseum Chur in der Ausstellung von Evelina Cajacob zu sehen. Sie hat hier ein Heimspiel: Die Künstlerin wurde 1961 in Sumvigt im Bündner Oberland geboren. Nach Ausbildungsjahren in Barcelona (1988–1993) kehrte sie ins Bündnerland zurück. Seither arbeitet sie hier, unterbrochen durch Atelieraufenthalte in Paris, Potsdam und Wien. Ihre Werke zeigte sie vor allem in Galerien ihrer Heimat, wo sie auch einige Kunst-am-Bau-Projekte realisierte und sich im Bergell an Kunstprojekten beteiligte. Die aktuelle Ausstellung, die zuvor in gegenüber Chur reduzierter Form im Kunstmuseum Bochum zu sehen war, ist die erste Museumspräsentation der rund 60-jährigen Künstlerin. Sie gestattet erstmals, Cajacobs Werk zu überblicken und auf seine Grundausrichtung hin zu befragen.
Meditationsräume
Zeichnen ist für Evelina Cajacob zentral. Als sie 2017/18 für ein Atelier-Stipendium in Wien weilte, entstanden rund 430 Zeichnungen im A-4-Format, mit denen sie ihren Arbeitsraum zum Kosmos ihres zeichnerischen Denkens ausgestaltete. In anderen Arbeiten führt die Hand der Künstlerin keinen Pinsel oder Stift. Aber auch da werden rhythmische und sich scheinbar endlos wiederholende Handbewegungen zum tragenden Element. Die Rede ist von Video-Skulpturen, welche die Hände Evelina Cajacobs bei schlichten Haushalttätigkeiten zeigen. Sie wirken ähnlich repetitiv wie die Linien der Zeichnungen, und sie erschliessen in ähnlicher Weise Meditationsräume. Zugleich schaffen sie eine Spannung zwischen der mit Perfektion eingesetzten Video-Technik und der Archaik der Tätigkeiten. Stets handelt es sich um Loops, um Endlosschlaufen: Die Zeit steht, da es weder Anfang noch Ende gibt, still.
Eine dieser Videoskulpturen besteht aus einem kleinen Holztisch, auf dem ein Stapel Küchentücher liegt. Auf diesen Stapel ist ein Video projiziert, das die Hände der Künstlerin zeigt, die in gleichmässigem Rhythmus und mit eleganten Bewegungen Küchentücher falten. „HandArbeit“ lautet der Titel dieser 2010 entstandenen Arbeit. „Il paun da mintgadi (Das tägliche Brot)“ ist eine andere Installation von 2011/12 betitelt: Auf dem Boden steht eine weisse Schale, in der Frauenhände zu sehen sind, die in steten kräftigen Bewegungen einen Brotteig kneten. Eine dritte Video-Installation heisst „Incréscar – Lange Zeit“: Frauenhände wickeln in gleichmässigen Drehbewegungen eine graubraune Schnur zum Knäuel. Das Video wurde 2013 während der Ausstellung „Video Arte Palazzo Castelmur“ über einem schlichten Bett an die Holzwand eines Schlafzimmers projiziert.
Sinnlichkeit des Materials
Dieses Werk ist in Chur nicht zu sehen, da sich die Künstlerin mit „Lange Zeit“ direkt auf die konkrete Situation im merkwürdigen Palazzo Castelmur bei Stampa bezog, der zwischen den weltläufigen Architektur-Phantasien eines seiner Besitzer und rural-einfacher Bauweise pendelt. Das Kugelmotiv, das hier als Knäuel eine zentrale Rolle spielt, findet sich auch in anderen Arbeiten von Evelina Cajacob – eindrücklich in einer während ihrer Ausbildungszeit in Barcelona entstandenen und nun auf die Churer Ausstellung hin nachgebildeten 75 cm hohen Styropor-Kugel, die die Künstlerin mit Kaninchenfellen so überzogen hat, dass man an einen Globus denken mag und auch gerne zum Betasten des Objektes ansetzen würde, wäre da nicht die von der Künstlerin bewusst als Spannungselement eingesetzte Plexiglashaube, die uns daran hindert.
Mit den Kaninchenfellen nutzt Evelina Cajacob die Sinnlichkeit eines vertraut/unvertrauten Materials zur emotionalen Nähe und zugleich zur Irritation: Das Fell wirkt kuschelig und auf der geometrisch klaren Kugelform zugleich befremdend – eine präzis getroffene Materialwahl. Dieser sorgsame Umgang mit dem Material und seinen vielschichtigen Bedeutungen spielt auch für andere Arbeiten eine wichtige Rolle, für die erwähnten Videos zum Beispiel, aber auch für eine 2001 für die Churer Galerie Luciano Fasciati konzipierte und auch in die Churer Ausstellung übernommene Installation: Evelina Cajacob präsentierte im Galerieraum ein schlichtes Bett, dessen Matratze und Kopfkissen eine dicke Schicht roher und wiederum archaisch wirkender Betttücher aus Leinen bedeckte. Auch darüber hinaus setzt sich die Künstlerin oft mit dem Bett als Ort körperlich-sinnlicher Befindlichkeit auseinander: In der „Installation für eine Nacht“, 2001 für ein Hotel in Chur realisiert, kombinierte sie das reale Bett-Objekt mit der grossen Diaprojektion einer wirbelnden Zeichnung, die wir als Strudel ausufernder Träume lesen können. Im Hotel Bregaglia in Promontogno weitete ihre Wandzeichnung ein Schlafzimmer in eine weit ausschweifende Aussenlandschaft aus (2010).
Halbtransparenz
Der grosse Untergeschoss-Raum des Churer Museumsneubaus nimmt die Installation „Wachsvorhang“ auf, die 2016 in reduzierter Form im Kunstpalast Düsseldorf in der Ausstellung „Hinter dem Vorhang“ zu sehen war. Diese Ausstellung galt, ausgehend von einem Kardinalsporträt Tizians, dem Thema des Vorhangs in der Malerei. Cajacobs Vorhang rahmt nun den ganzen Museumsraum ein und lässt an beiden Stirnseiten je ein Feld offen für Videoarbeiten, in denen die Hände der Künstlerin sich an weissen Stoffen zu schaffen machen. Der Vorhang selber ist aber nicht aus Stoff. Er setzt sich aus weissen Papierbahnen zusammen, die mit Wachs versehen sind, der das Papier festigt und sein Knittern fixiert. Der Vorhang verhüllt einerseits, was sich hinter ihm befindet. Zugleich legt die Halbtransparenz des gewachsten Papiers aber das Dahinterliegende halbwegs frei. Diese Materialität gibt dem Raum eine ambivalente, teils irritierende, teils aber auch von Geborgenheit geprägte Atmosphäre.
Behutsamkeit und Präzision der Eingriffe in die räumlichen Gegebenheiten des Hauses, aber auch eine grosse Ruhe kennzeichnen die von Stephan Kunz kuratierte Ausstellung, die erstmals die Untergeschosse des Neubaus und der Villa Planta verbindet. Evelina Cajacobs facettenreiches und multimediales Werk überzeugt durch sorgsame Pflege jedes Details. Es wurzelt stets in Persönlich-Privatem, greift aber mit seiner sinnlichen Präsenz darüber hinaus in wesentliche Bereiche menschlichen Lebens. Es verzichtet auf das Laute und fordert von den Besuchern Zeit und ein Sich-Einlassen auf jene Zwischentöne, die ohne Geduld kaum wahrzunehmen sind.
Vielleicht fügt sich dieses Werk gerade damit – ungeplant, denn das Unternehmen war schon längst konzipiert – ein in die (unfreiwillige) Stille der Corona-Zeit, die Anlass sein kann, mehr als üblich innezuhalten und nach der Tiefe Ausschau zu halten.
Bündner Kunstmuseum Chur. Bis 13. September. Katalog 38 Franken
Weitere Ausstellungen: Erica Pedretti. Bis 26. Juli; Ludovica Carbotta. Bis 2. August