Der Dokumentarfilm «Hirtenreise ins dritte Jahrtausend» von Erich Langjahr, 2002 entstanden und mit internationaler Resonanz, kommt digital restauriert wieder in die Kinos. Ein zeitloses Meisterwerk.
Diese Leistung gelang vorab deshalb, weil Erich Langjahr der in der Luft liegenden Versuchung widerstand, die Wanderweidewirtschaft zu romantisieren und zu idealisieren. Diese Abkehr ist umso bemerkenswerter, als die halbnomadischen Hirten, die mit ihren Herden im Besitz von Landwirten über grosse Distanzen auf nicht eingehegtes Weideland in verschiedene Höhenstufen wechseln, mit folkloristischer Inbrunst leichthin zu verklären und mit ethnographischer Nüchternheit anstrengend zu erklären sind.
Beifall statt Empörung
Der Regisseur, der auch das Drehbuch schrieb und assistiert von der Tonmeisterin Silvia Haselbeck die Kamera führte und den Schnitt besorgte, löst sich von den erschlagend schönen und für den Tourismus werbenden Bildern der Alpaufzüge und Alpabfahrten mit den Sennen in ihren adretten Trachten und den mit Blumen gekrönten Tieren. Er grenzt sich ab vom Begriff «Hirtenvolk», dem heimattümelnd aufgeladenen Synonym für Schweizerinnen und Schweizer. Für Heidi und den Geissenpeter gibt es keinen Platz.
Die Befreiung von den fotogenen und anrührenden Klischees war riskant. Das Publikum hätte sich über die ethnographische Versachlichung helvetischer Mythen hell empören können. Stattdessen strömte es in hellen Scharen in die Kinos. Allein hierzulande erreichte die «Hirtenreise» 50’000 Zuschauerinnen und Zuschauer. Für einen Dokumentarfilm eine enorme Zahl.
Er spricht in Bild und Wort eine rund um den Erdball packende Sprache und begeisterte das Publikum von Mailand, Wien und Budapest über Addis Abeba, New York und Seattle bis Hongkong, La Paz und Havanna. Das EDI zeichnete die «Hirtenreise» aus als besten Dokumentarfilm des Jahres 2003, das Festival Leipzig mit der Goldenen Taube, das Chicago Documentary Festival mit einem Award, das Festival Grenoble mit dem Spezialpreis der Jury.
Geduld als Mass aller Dinge
Das Publikum vor der Leinwand erwacht sofort aus seinen Träumereien von der lauschigen Schäferexistenz. Es friert mit dem Hirten, der im November vierhundert weisse und schwarze Schafe auf einer Wiese zwischen zwei rege befahrenen Strassen mit Zurufen und Schnalzlauten in einen Wald treibt. Es wärmt sich auf am Feuer, das der Hirt entfacht, und mit der Gemüsesuppe, die er sich kocht. Es hört verfremdende Musik, die Hans Kennel in den Grenzbereichen von Volkstümlichem, Jazz und Klassik komponierte.
Und ebenfalls gleich zu Beginn lehrt der Film, sich in Geduld zu üben, weil sich nichts schneller ereignen kann, als es der Trott der Herde und die alltäglich gleichen Verrichtungen des Hirten erlauben. Die Überquerungen von Bahngeleisen und Bächen, das Balzen eines Bocks oder die Geburt eines Schafes brauchen ihre Zeit wie das Aufstellen des primitiven Blachenzelts für den nächtigenden Hirten und das morgendliche Beladen des Lastesels.
Höchste Konzentration
Diese Ewigkeiten werden spannend und wecken die Neugier auf jede Einzelheit. Die «Hirtenreise» ist eine überraschende und bereichernde Expedition durch eine «terra incognita» und ein mediativer Kontrapunkt zum hektischen Tatendrang im Hamsterrad.
Die Notwendigkeit der dauernden Achtsamkeit, wie sie Alpinisten oder Lokomotivführer kennen, fordert den Hirten Tag und Nacht. Pausenlos. In jedem Augenblick könnte die Bewegung eines Tieres Unruhe stiften und gefährlich werden. Diese unbedingte Konzentration überträgt der Film mit seiner Eindringlichkeit aufs Publikum. Es wird gebannt und verwandelt sich für zwei Stunden in gute Hirtinnen und Hirten.
Hautnahes Miterleben
Erich Langjahr begleitete während Jahren Thomas und Susanna Landis-Giacometti und deren Kinder Antonio, Josa und Selina in Cademario und Thomas auf der Winterweide im Luzernischen und Aargauischen sowie Michel Cadenazzi und Bea Ammann in Hospental und auf den Alpsömmerungen im Urnerland und Bündnerland. Der Regisseur wollte das heutige Hirtenleben kennenlernen.
Das ist der Punkt. Das Publikum wird zu diesem Aufsuchen und Aufspüren mitgenommen und erlebt eine unmittelbare Teilhabe. Erich Langjahr doziert nicht, sondern ermöglicht geradezu hautnahe Begegnungen mit Menschen, die sich um der persönlichen Freiheit willen dem Walten der Natur aussetzen und jede Unbill so klaglos ertragen wie die Härte der Arbeit und den Verzicht auf Bequemlichkeit.
Urgeschichtliche Tradition
Der Entschluss für Freiheit und Entbehrung folgt weder einer Ideologie noch der Schwärmerei vom Ausstieg, sondern einer urgeschichtlichen Tradition. Sie wurde begründet von eurasischen Stämmen, die im Wanderhirtentum eine lohnende und zugleich ökologische Wirtschaftsform erkannten, nämlich die Nutzung der Natur ohne deren Zerstörung.
Denken wir uns im Film die Tiertransporter und Helikopter weg, wird aus der «Hirtenreise ins dritte Jahrtausend» eine Reise ins zweite Jahrtausend vor Christus und überdies ein Dokument von beständiger Gültigkeit. Und ein Meisterhaftes deshalb, weil Erich Langjahr präzise, schweigend und respektvoll beobachtet, nichts moralisierend in die Hirtenwelt hineindeutelt und diese nicht anwaltschaftlich überhöht. Es ist bei klaren Sinnen ein Liebesfilm geworden.
Die «Hirtenreise ins dritte Jahrtausend» schliesst nach der «Sennen-Ballade» und dem «Bauernkrieg» die Bauern-Trilogie Erich Langjahrs als ethnographische Ikone kraftvoll ab. Die Augen öffnend für eine archaische Tradition, die hinter der Lametta-Folklore noch immer nutzstiftend und voller Energie lebt.
«Hirtenreise ins dritte Jahrtausend» kommt ab Ende November in die Kinos: www.langjahr-film.ch