Als im Juli 2012 das erste libysche Parlament gewählt wurde, gab es für die meisten Beobachter eine Überraschung. Gewählt wurde eine liberal und national ausgerichtete Mehrheitspartei, die mit ihren Verbündeten 63 der 80 für Parteien vorgesehenen Sitze erlangte. Die Partei der Muslimbrüder kam auf bloss 17 Abgeordnete. Weitere 120 Abgeordnete wurden als Unabhängige auf individuellen Sitzen gewählt. Die Mehrheitspartei bildete daraufhin die erste Regierung.
Das Elend mit den Milizen
Da aber die Milizen sich nicht entwaffnen liessen, hatte diese Regierung wie auch ihre Nachfolgerin einen schweren Stand. Es gelang ihnen nicht, die Bewaffneten zu einer Armee und Polizeitruppe zusammenzuschliessen und diese dem Staat zu unterstellen. Sie sahen sich vielmehr gezwungen, bestimmte Milizen zu bezahlen, damit diese als Schutztruppen für die Regierung wirkten. Weiter mussten die jeweiligen Regierungen akzeptieren, dass die Bewaffneten ihre eigene innere Organisation und ihre Kommandanten beibehielten.
Da die Regierung auf Erdöleinnahmen zählen konnte und auch bedeutende Geldreserven aus der Ghaddafi-Zeit übernahm, stellte die Bezahlung der Milizen einen Ausweg da, der anfänglich bequem zu begehen war. Doch die Macht kommt aus den Gewehrläufen, und die Milizen lernten mehr und mehr, sie den Politikern zu auferlegen.
Dies begann mit «politischen» Aktionen, die die Milizen mit Waffengewalt durchsetzten. Am wichtigsten war wohl das auf diesem Weg den Gesetzgebern aufgezwungene strenge Gesetz des Politikverbotes für alle Personen, die je im Staat Ghaddafis politische Positionen bekleidet hatten. Weil dieser Staat 42 Jahre lang gedauert hatte, war praktisch ein jeder, der sich je mit Politik befasst oder höhere bürokratische Posten bekleidet hatte, von Ausschliessung betroffen. Der erste Ministerpräsident Libyens in der Zeit des Kriegs gegen Ghaddafi, Mahmud Jibril, der auch die Mehrheitspartei Libyens gegründet hatte, wurde ein Opfer dieser Gesetzgebung. Er musste zurücktreten. Die Islamisten jedoch, die von Ghaddafi stets als Staatsfeinde behandelt worden waren, konnten weiter Politiker bleiben.
«Islamischer Staat» als Alternative
Weil es immer schwieriger wurde, das Land zu regieren, in dem 1700 verschiedene Milizen ihr Wesen trieben, kam der Übergang zu einem funktionierenden demokratischen Regime nicht voran. Die Schuld wurde von der Bevölkerung und auch von den oppositionellen Abgeordneten primär der Regierung zugeschrieben. Sie hätte in ihren Augen erreichen sollen, was sie nicht erreichte.
Die Enttäuschung über die Regierung der liberal-nationalen Mehrheitspartei bewirkte, dass viele der 120 Unabhängigen begannen, sich der einzigen oppositionellen Doktrin zuzuwenden, deren Sprecher systematisch die Regierung kritisierten. Dies war jene der Muslimbrüder und der mit ihnen verwandten islamistischen Gruppen. Sie hatten einen anderen, dem gegenwärtigen widersprechenden Weg in die Zukunft vorzuschlagen, den des «islamischen Staates». Zur Zeit wird damit gerechnet, dass etwa 70 der «unabhängigen» Parlamentarier mit den 17 von der Partei der Muslimbrüder (sie heisst die «Gerechtigskeits- und Aufbau-Partei») gemeinsame Sache machen und für sie stimmen.
Unter den bewaffneten Gruppen gab es solche, die ebenfalls auf den «islamischen Staat» setzten, radikalere und weniger radikale. Andere Milizen huldigen eher einer «säkularitischen» Zielsetzung. Bald schon begannen die unterschiedlichen Gruppen im Parlament mit diversen Milizen, die ihrer Ideologie oder auch ihrer lokalen Zugehörigkeit nahe standen, Aktionsbündnisse zu schliessen. «Ihr helft uns mit den Waffen und wir helfen euch politisch», lauteten die ungeschriebenen Abmachungen.
Trennende Religionen
Wie in allen anderen revolutionären arabischen Länder auch, erwies sich dabei die religionsgemeinschaftliche als die wichtigste aller Bruchlinien, an denen die Geister sich schieden. Dieses Phänomen geht auf den Umstand zurück, dass die Religionen überregionale, ja übernationale Solidaritätszusammenschlüsse erlauben, ja fordern. Sie überlagern die regionalen Gemeinschaftskräfte.
In Libyen gibt es zum Beispiel Milizen, die aus der Stadt Misrata stammen und aus diesem Grunde zusammenhalten, andere aus der Stadt Zintan, noch andere, Berber, aus dem Jebel Nufus.
Es gibt aber auch solche, die sich «islamisch» nennen und in der Lage sind, über alle lokalen Wurzeln hinaus Solidarität unter allen Muslimen zu fordern. Weil ihre Macht von jenen gefürchtet wird, die einen islamischen Staat vermeiden möchten, sehen sich diese veranlasst, je mächtiger die Islamisten werden, desto mehr ihrerseits den gemeinsamen Nenner des «Säkularisamus» zur Basis ihrer Zusammenschlüsse zu machen. So reichen auch sie über die blossen lokalen Zusammenhänge hinaus.
Auf diesem Weg kam es zuerst zur «Islamisierung» der Abgeordenten, die nicht zur Regierung gehörten und ihr zunehmend kritisch gegenüberstanden, dann zur Bildung eines «islamistischen» Gegenblocks gegen die «säkulare» Regierung und unvermeidlich zum Zusammenspiel beider Gruppen mit «ihren» Milizen, das heisst mit jenen bewaffneten Gruppen, die entweder als Islamisten oder als Säkularisten auftraten.
Umschichtung unter den Unabhängigen
In den letzten Monaten war es soweit, dass die Zahl der «Anti-Säkularisten» (gebildet aus den ehemaligen Unabhängigen) im Parlament soweit zunahm, dass sie die Regierungsmehrheit herausfordern konnten. Regierungskrisen waren sehr häufig, und einer der neuernannten Ministerpräsidenten, Abdullah ath-Thannay, wurde am 11. März von der bisherigen Opposition gewählt. Er gilt als eine Person, die bereit ist, mit den Muslimbrüdern, der bestorganisierten unter den islamistischen Gruppen, zusammenzuarbeiten.
Doch sein Leben und das seiner Familie wurden bedroht, und er entschloss sich zurückzutreten. Das Parlament schritt am 4. Mai zur Wahl eines weiteren Ministerpräsidenten, nun wieder eines mehr säkularistisch ausgerichteten, Ahmed Maiteeq. Doch seine Wahl verlief so chaotisch, dass zum Schluss unklar blieb, ob er wirklich gewählt worden war oder nicht. Deshalb führt ath-Thannay zurzeit die Regierung interimistisch.
Politikverdruss
Die Spaltung zwischen den nun in zwei rivalisierende Hälften geteilten Abgeordneten war so heftig geworden, dass die Arbeiten des Parlamentes ständig blockiert waren. Zu diesen Spannungen trug natürlich der Umstand viel bei, dass beide Seite über bewaffnete und interventionswillige Verbündete unter den Milizen ausserhalb des Parlaments verfügten. Die Interventionsbereitschaft der Milizen war unter anderem dadurch gegeben, das immer wieder Geld floss, wenn sie zu den Waffen griffen. Das einzige Mittel der Regierenden und der Politiker, um sie zu beruhigen, war zum Checkbuch zu greifen und Staatsgelder auszuteilen.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die ständige lebensgefährliche Unsicherheit und den mangelnden politischen Fortschritt richtete sich primär gegen die Politiker und die Regierung. Von ihnen hatte man erwartet, dass sie das Land voranbringen würden, umso mehr als ja die finanziellen Mittel dazu nicht fehlten. Gelegentlich kam es auch zu Entladungen der Unzufriedenheit gegenüber den Milizen, wie etwa in Tripolis im November des vergangenen Jahres, als die Bevölkerung demonstrierte und dann teilweise ihrerseits zu den Waffen griff, um die dortigen Milizen (die aus Misrata gekommen waren) zu verjagen.
Doch die Politiker mit ihren dauernden Grabenkämpfen wurden als die Hauptschuldigen angesehen. Als das Parlament am 27. Februar versuchte, seine Amtsperiode zu verlängern, entstand viel Murren und Opposition unter der Bevölkerung wie auch innerhalb der Milizen. Genauer gesagt, unter jenen Milizen, die mit jener Seite der Politiker verbündet waren, welche von Neuwahlen zu profitieren hoffen. Dies ist die islamistische Seite. Die Proteste unter der Bevölkerung führten dazu, dass die Regierung die Neuwahlen auf diesen Sommer versprach.
General Hafters «Krieg gegen Terrorismus»
In diese Gesamtlage der fortschreitenden Aufspaltung zwischen «Islamisten» und «Säkularisten» (sowohl im Bereich der Politik wie auch der Milizen) ist nun ein neuer Faktor eingebrochen: der ehemalige General und einstige Anhänger Ghaddafis (vor vielen Jahren) sowie frühere «Bundesgenosse» der CIA und spätere Kommandant im Krieg gegen Ghaddafi, Khalifa Belqasim Hafter (auch Haftar geschrieben). Er verfügt über eine eigene Miliz, die er «Nationale Libysche Armee» getauft hat, und erklärte den Krieg gegen die «Terroristen».
Darunter versteht er – wie die ägyptischen Offiziere – die Muslimbrüder und alle anderen Islamisten, die ihren Anspruch auf einen «islamischen Staat» durchsetzen wollen. Sein anfänglicher Vorstoss gegen islamistische Milizen in Benghasi war blutig, aber nicht erfolgreich. Er hat jedoch erklärt, sein Krieg werde andauern. Einige militärische Einheiten in der Cyrenaika haben sich ihm offen angeschlossen. Auch in Tripolitanien verfügte er über genügend bewaffnete Sympathisanten, um das Parlament zu erstürmen und in Brand zu setzen.
Er und die Seinen fordern die Schliessung des Parlamentes. Sie werfen ihm vor, es sei erstens wirkungslos und zweitens in die Hände der Islamisten geraten. Doch die Regierung, «provisorisch» noch in der Hand von ath-Thinnay, der als eher den Islamisten zuneigend gilt, rief erneut die Milizen aus Misrata zu Hilfe, um jene aus Zintan, die Hafter unterstützen, in Schach zu halten.
Wahlen als Notausgang
Die Regierung schlug auch vor, das Parlament solle zurücktreten, sobald das Budget für das laufende Jahr verabschiedet sei. Das Budget war bisher blockiert geblieben, weil die beiden Hälften des gespaltenen Parlamentes sich nicht einigen konnten. Wahlen wurden sodann auf den 25. Juni ausgeschrieben. Ob und wie sie durchgeführt werden können in einem Land, das von Waffen starrt und soeben einen ideologischen Krieg begonnen hat, bleibt zurzeit offen.
Die Politiker hoffen, die Wahlen würden eine gewisse Beruhigung bringen und einen Entscheid herbeiführen, an den sich möglicherweise alle Teile, Politiker und Bewaffnete, halten könnten. So könnte ein Bürgerkrieg vermieden werden. Doch im Hintergrund geht offensichtlich die Werbung um Anschluss der Milizen an den einen oder den anderen der Hauptblöcke weiter.
Sie werden sich alle gezwungen sehen, einen Entscheid für oder gegen den Islamismus zu fällen. Oder möglicherweise auch, sich in dem bevorstehenden Kräftemessen als neutral zu erklären. Gerade die zahlreichen kleineren unter den 1700 Milizen werden gezwungen sein, sich hier oder dort anzulehnen, wenn die allgemeine Auseinandersetzung entlang der Hauptspaltungsachse beginnt.
Es ist zu befürchten, dass der Bürgerkrieg in der Tat schon begonnen hat. Hafter und die Seinen, deren Zahl zurzeit noch zu wachsen scheint, treten auf als die Vorkämpfer des «Säkularismus». Doch die islamistischen Gegenkräfte sind schwer bewaffnet und keineswegs kapitulationsbereit. In den blutigen Zusammenstössen von Benghasi am vergangenen Freitag haben sie zunächst die Leute Hafters zurückgeschlagen.
Propagandafeldzüge
Auch der Propagandakrieg hat bereits voll eingesetzt. Die Feinde Hafters auf der islamistischen Seite erklären, er selbst sei ein Gefährte Ghaddafis, gewissermassen ein zweiter Ghaddafi, mitschuldig am Tod von Tausenden von Libyern im Krieg der 80er Jahre gegen Tschad. Sie sehen Hafter als Putschisten gegen die gewählte Versammlung und deuten an, er arbeite in Wirklichkeit «für das Ausland», wie es seiner CIA-Vergangenheit entspreche. Geld und Waffen erhalte er aus den Arabischen Emiraten und aus Ägypten, beide erklärte Feinde der Mulsimbrüder.
Die Freunde Hafters weisen auf die jüngsten Entwicklungen in der arabischen Welt hin, wo die Muslimbrüder ihre Macht verloren, und sie erklären, es sei an der Zeit, dass auch in Libyen ihrem Unwesen ein Ende bereitet werde.
Es besteht wenig Zweifel, dass die ägyptischen und die algerischen Nachbarn Libyens gerne ein Ende islamistischer Macht in Libyen sehen würden. Auch den Amerikanern dürfte es recht sein, wenn jemand gegen die libyschen Islamisten vorgeht. Ihr Botschafter, Chris Steven, wurde in Benghasi von Leuten der islamistischen Kampfgruppen «Ibn al-Jarra Brigade» und «Ansar asch-Scharia», ermordet.
Auf der Gegenseite ist die tunesische an-Nahda-Partei gegen Hafter aufgetreten. Sie sieht ihn als einen Putschisten. Er selbst und seine Sprecher erklären, seine Aktion sei kein Putsch, denn einen solchen könne nur eine geeinte Armee durchführen, wie sie in Libyen nicht existiert. Sie seien gegen das Parlament aufgetreten, weil dieses sich als handlungsunfähig erwiesen habe. Ihre Aktion sei nicht politisch. Sie sei nur ein Feldzug zur Befreiung Libyens von den «Terroristen».