Das Hotel vermietete im Winter die Zimmer billig an Studenten und im Sommer, während der Semesterferien, etwas teurer an Touristen. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich die vielen, damals populären Cafés und Kellerlokale von Montparnasse und dem Quartier Latin.
Die Stimmung im Volk war in jenen Jahren so trübe wie regnerische Novembertage. Frankreich – „La Grande Nation“ – war im Krieg gedemütigt worden.Zudem trat allmählich das beschämende Ausmaß der Kollaboration mit den deutschen Truppen in Erscheinung.
Unwirsch und kaltschnäuzig wurde man in den Geschäften, Kneipen, Ämtern und an den Schaltern der Untergrundbahn bedient. Gleichzeitig entfaltete sich ein kulturelles Leben sondergleichen.
Beste Plätze für den Preiseiner Baguette
Der Existenzialismus stand in seiner Hochblüte. Seine Protagonisten wie Sartre oder Camus sah man in Cafés oder an Vorträgen. Begriffe wie das „Nichts“, der „Zufall“, die „Sinnlosigkeit“ standen bei den Studenten hoch im Kurs.
Angesichts des empfundenen oder angelesenen Gefühls von der Sinnlosigkeit des Daseins berauschten wir uns in den Bars und Kellerlokalen am Leben oder an dem, was wir dafür hielten. Jede Neuerscheinung von Sartre, Camus, Malraux, Gide oder Valéry wurde alsbald verschlungen und in den Kaffees heiß debattiert.
Die Theater boten hinreißende Inszenierungen, spielten neben den Klassikern die neuesten Stücke von Claudel, Sartre, Camus, Giraudoux, Anouilh. Als Student kriegte man an den Abendkassen der Theater wenige Minuten vor Vorstellungsbeginn für den Preis einer Baguette übriggebliebene Karten, manchmal beste Sitze im Saal.
**"... deshalb muss ich tun, was die Mächtigen verlangen."
Auf den Bühnen standen einige der größten Schauspieler und Schauspielerinnen jener Zeit, etwa Jean-Louis Barrault, Edwige Feuillère und Pierre Brasseur zusammen in Claudels „Mittagswende“ oder Louis Jouvet in Giraudouxs „Undine“. Und der unvergleichliche, massige und plumpe Raimu brachte das Publikum in Lachkrämpfe mit der Art, wie er in Molières „Der Bürgerliche Parvenü“ (Bourgeois Genilhomme) unbeholfen die vom Tanzlehrer vorgezeigten Tanzschritte einzuüben versuchte.
Giraudoux und Anouilh begeisterten mit Neugestaltungen der dramatischen Themen von Aischylos und Sophokles. Diese wirkten zeitgemäß, denn sie enthalten schon alle existentiellen Fragen und Probleme, um deren Lösung wir damals rangen und noch heute ringen. Wer zum Beispiel hatte nicht unter Hitler, Stalin oder Ulbricht zum eigenen Unheil gesagt, was Aischylos die gefügige Chrysothemis zu ihrer rebellischen Schwester Elektra sagen lässt (Verse 328-330): „Es ist nicht das Rechte, was ich sage; Recht ist, was du tust; aber ich will leben, deshalb muss ich tun, was die Mächtigen verlangen.“
Ein auserlesener Kreis junger Philosophiestudenten
Mein Zimmernachbar im Hotel studierte an der renommierten „Ecole Normale Supérieur“ Philosophie und gehörte zu einem kleinen Kreis von Jüngern Sartres, die sich mehr oder weniger regelmäßig in einem Lokal von Montparnasse mit ihm trafen.
Ich fragte ihn eines Tags, ob ich einmal zu einem jener Treffen mitkommen könne. Er zögerte – es war ein auserlesener Kreis meist junger Literaten und Philosophiestudenten –, versprach mir aber, den „Meister“, „Le Maître“, wie er Sartre stets nannte, zu fragen. Sartre sagte zu, und ich wurde eines Abends als Gast in diesen Kreis eingeführt.
Der Sinn dieser Treffen bestand darin, dass jeweils einer der Anwesenden ein fünf bis zehn Minuten dauerndes Kurzreferat über ein selbstgewähltes Thema philosophischer oder literarischer Natur hielt, das nachher gemeinsam besprochen wurde. Ich kann mich nicht erinnern, worüber an jenem Abend der Referent sprach. Ich befürchte, es überforderte ohnehin mein Verständnisvermögen.
Ermutigung zu weiterem Nachdenken
Unvergesslich blieb mir jedoch die Art, wie Sartre nachher das Referat kommentierte. Als der Referent mit seinem Vortrag zu Ende war, schwiegen zunächst einmal alle Anwesenden, zündeten sich vielleicht eine Zigarette an oder tranken einen Schluck aus dem vor ihnen stehenden Glas Bier oder blickten in Gedanken versunken vor sich hin. Nach dieser Pause, die vielleicht nur ein paar Sekunden, vielleicht eine Minute lang dauerte, begann Sartre zu sprechen.
Aus dem Gedächtnis nahm er sich rückwärts, also vom Ende des Referats her, jeden einzelnen Satz vor, analysierte ihn und vernichtete ihn. Er tat dies mit der größten Höflichkeit, verletzte mit keiner einzigen Bemerkung den so schonungslos kritisierten Referenten, entmutigte auch nicht etwa die Anwesenden, sondern ermutigte sie vielmehr zu weiterem Prüfen und Nachdenken.
Es wirkte auf mich wie eine Vorstellung rücksichtsloser Denkschärfe bei strikter Einhaltung geradezu höfischer Umgangsformen. Auf dem Heimweg versicherte mir mein Zimmernachbar, dass dies bei jedem Treffen so geschehe.