Nun also Martin Schulz. Neuer Heilsbringer der deutschen Sozialdemokraten? Retter der einstmals stolzen, auf einer grossen Geschichte aufbauenden und auf historische Leistungen zurückblickenden Partei? Einer Partei, die allerdings von den Wählern seit geraumer Zeit immer mehr herabgestuft und in ihrer Bedeutung regelrecht eingedampft wurde. Eigentlich war allgemein erwartet worden, dass Sigmar Gabriel am kommenden Wochenende verkünden werde, in fast genau acht Monaten bei der Bundestagswahl als Herausforderer der Bundeskanzlerin Angela Merkel anzutreten. Schliesslich ist er – seit acht Jahren sogar schon – der Parteichef. Und dieser hat, traditionsgemäss, den Zugriff auf die Spitzenkandidatur.
Ein guter EU-Präsident
Was stattdessen geschah, ist bekannt. Gabriel kündigte seinen Rücktritt als Parteichef an und verzichtete auf die Spitzenkandidatur. Das soll statt seiner nun Schulz machen. Der Mann aus dem kleinen Städtchen Würselen vor den Toren der alten Kaiserstadt Aachen. Ein altgedienter Europapolitiker. Zum Schluss ein paar Jahre Präsident des Europaparlaments. Das wäre er gern geblieben. Doch die dortigen Konservativen verwehrten ihm dieses Ansinnen mit dem Hinweis auf ein altes Abkommen, wonach der Vorsitz immer zur Hälfte der Legislaturperiode von ihnen zu den Sozialisten beziehungsweise umgekehrt wechsle.
Schulz war ein guter EP-Präsident – eigentlich der beste seit langem. Sein Auftreten nach innen, aber auch nach aussen bewirkte gerade in diesen für die EU so krisenhaften Zeiten, dass die so häufig im Schatten der nationalen Ereignisse stehende europäische Volksvertretung öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Und: Martin Schulz hatte Gefallen daran gefunden, im internationalen Rampenlicht zu stehen. Sich wieder eingliedern zu sollen in Reih´ und Glied der Anonymität – danach stand nicht sein Sinn.
Ob Martin Schulz bei seinem Abtritt von der europäischen Bühne die Pläne seines (wie beide zu versichern nicht müde werden) Freundes Gabriel ahnte, sie möglicherweise sogar schon kannte, ist eher unwahrscheinlich. Er spekulierte vielmehr auf eine neue Plattform mit grenzübergreifender Beachtung: das Berliner Auswärtige Amt. Denn dessen Spitze wird frei, wenn am 12. Februar der jetzige Amtsinhaber, Frank-Walter Steinmeier, als Nachfolger von Joachim Gauck zum neuen Bundespräsidenten gewählt wird. Ein Coup, der übrigens auf Sigmar Gabriel zurückgeht, der blitzschnell die Uneinigkeit von CDU und CSU in dieser Personalfrage ausgenützt und den parteiübergreifend angesehenen Steinmeier als Kandidaten aufs Tapet gehoben hatte.
Ein Hauch von Tragik
Mit seinem jetzigen personalpolitischen Paukenschlag ist es Gabriel immerhin gelungen, der Partei wieder so etwas wie Leben zurückzugeben. Wer die SPD über Jahrzehnte beobachtete und begleitete, bemerkte, wie die zunehmende Abkehr weiter Teile der Gesellschaft parteiintern von Verwunderung über Verzweiflung allmählich in Resignation überging. Nicht, weil es etwa eine Herzensangelegenheit gewesen wäre, sondern aus traditioneller Verantwortung dem Staat gegenüber, gingen die Genossen zweimal eine Koalition mit der Merkel-Union ein. Gedankt hat man es ihnen nicht.
Im Gegenteil – profitiert hat beim ersten Mal die Kanzlerin. Und auch jetzt deuten die Voraussagen in dieselbe Richtung. Darin mag man einen Hauch von Tragik erblicken. Aber die Partei war – und ist noch immer – daran auch nicht schuldlos. So ist es, zum Beispiel, völlig unverständlich, dass die Sozialdemokraten praktisch nie die Erfolge herausstrichen, die auf sie zurückgingen, sondern stets nur darüber jammerten, was nicht oder nicht ganz erreicht worden sei. Nur ein Beispiel von vielen: Erst auf massiven Druck der SPD wurde der Mindestlohn in Deutschland gesetzlich eingeführt. Doch die Partei brachte nicht diese Leistung unters Volk, sondern stritt und schimpfte, dass der Betrag zu niedrig sei …
Knapp vor der AFD
Jetzt also Martin Schulz. Die Ausgangslage für ihn ist gar nicht mal so schlecht. Und dies, obwohl die Zahlen das Gegenteil zu sagen scheinen. In Umfragen steht die SPD gegenwärtig bei etwa 20 Prozent; in Bayern sogar bei katastrophalen 14 Prozent. Damit liegt sie nur knapp über den Sympathie-Quoten der national bis nationalistisch auftretenden „Alternative für Deutschland“ (AfD).
Ein Blick zurück zeigt die ganze Dramatik des nun schon über viele Jahre gehenden Abstiegs dieser einstmals mächtigen politischen Kraft: 1969, als Willy Brandt und Walter Scheel erstmals die scheinbar unschlagbare Union in Bonn ablösten, erreichten die Genossen 42,7, vier Jahre später sogar 45,2 Prozent der Stimmen. Wenn Schulz also jetzt in den Ring tritt, hat er eigentlich nichts zu verlieren, sondern kann nur gewinnen. Denn ein weiteres Absacken, könnte man ihm (der von aussen kommend und nur ein paar Monate „Kampfzeit“ besitzend) kaum ankreiden. Hingegen wäre jeder Prozentpunkt mehr ein persönlicher Erfolg.
Zersplitterung der Gesellschaft
Das sind, auf die Person wie auf die Partei bezogen, ohne Zweifel wichtige Fragen. Entscheidend, freilich, ist etwas anderes. Es sind die Ängste, Strömungen, Abwehrmechanismen, Verhaltens- und Wahltendenzen, die sich mittlerweile beinahe wie Epidemien und die Grenzen übergreifend in den Gesellschaften zeigen. Offensichtlich zunehmend überfordert vom Tempo und von der Rasanz der sich bis in ihre unmittelbare Umgebung vollziehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, werden massenweise Menschen zugänglich für einfache, scheinbar schlüssige Thesen und Parolen.
Beispiel Europa: Objektiv ist das europäische Einigungswerk nach dem Jahrhunderte dauernden, zumeist von Kriegen begleiteten, Gegeneinander der Völker auf dem „alten Kontinent“ eine der grössten (weil auch noch friedlich vollzogenen) politischen Leistung überhaupt. Mag sein, dass es am Generationswechsel liegt: Tatsache jedenfalls ist, dass nicht nur das Bewusstsein für diesen „Wert Europa“ drastisch gesunken ist, sondern an vielen Orten und von vielen Kräften nahezu alles getan wird, um diese Gemeinschaft ideell wie politisch zu zertrümmern.
Was das alles mit der SPD und dem Wechsel an ihrer Spitze zu tun hat? Ganz einfach – die Antwort heisst AfD. Natürlich besteht diese „Sammlung“ (denn von einer „Partei“ kann man ja wohl noch nicht sprechen) nicht nur aus alten und neuen Nazis. Da sind viele Menschen dabei, die dem turbulenten Geschehen nicht mehr folgen können; die Flüchtlingsproblematik ist nur ein Teil davon. Man kann (ja muss!) fassungslos den Kopf schütteln, dass sogar intelligente, aufgeklärte Bürger den plumpen Parolendreschern applaudieren, die keinerlei Antworten haben, wie etwa eine Rückkehr zur europäischen Kleinstaaterei politisch und wirtschaftlich im weltpolitischen Geschehen Bestand haben könnte. Und doch ist die Tendenz zur Renationalisierung überall in der EU erkennbar. Und mit ihr eine Zersplitterung der Gesellschaften.
Zulauf von rechts bis links
Da lösen sich mit einem Mal scheinbar fest zementierte parteiliche Wahl- und Verhaltensmuster. So finden sich mittlerweile bei der AfD altgestandene Sozialdemokraten Arm in Arm mit versprengten Christsozialen, da erfolgt Zulauf von Liberalen wie aus dem früheren ostdeutschen Kommunisten-Milieu. Und nichts deutet darauf hin, dass sich dieses Sammelsurium in absehbarer Zeit wieder auflösen werde. Im Gegenteil.
Und es ist diese Zersplitterung der Gesellschaft und der politischen Strömungen, die der parteipolitischen Klasse gegenwärtig so sehr zusetzt, weil sie darauf keine schlüssigen Antworten hat. Martin Schulz wird sich, zum Beispiel, vehement mit der an die SPD gerichteten Frage auseinander setzen müssen, wie es die Partei denn mit dem Faktor „Gerechtigkeit“ halte. Schliesslich sei doch gerade dieser Begriff wie kaum ein anderer mit der sozialdemokratischen Geschichte verknüpft.
Gerechtigkeit?
Aber, was heisst „Gerechtigkeit“ in einem Zeitalter, das von gnadenlosen Lobby- und Interessenkonflikten geprägt ist und nicht mehr vom Leiden ausgebeuteter Industriearbeiter? Was bedeutet „Gerechtigkeit“ in einer Zeit, in der nicht mehr das aus der christlichen ebenso wie der sozialistischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip befolgt wird, sondern man den Sozialstaat wie einen Katalog für Versorgungsbestellungen betrachtet?
Schulz ist, ohne Zweifel, ein überzeugter Europäer. Wie es heisst, ist er seit Jungendzeiten sogar befreundet mit Viktor Orbán, dem jetzigen „starken Mann“ in Ungarn. Wie aber soll das zusammen gehen – hier der Deutsche, der den Brüsseler Laden (aus gutem Grund) zusammenhalten möchte, dort der Magyar, der in dieser EU allenfalls eine finanzielle Milchkuh sieht?
Deutschland und den Deutschen stehen auf jeden Fall spannende Monate bevor. Schliesslich geht es ja in diesem Jahr nicht nur um den nächsten Bundestag und damit möglicherweise um Regierungskoalitionen, die man sich heute noch gar nicht vorstellen mag. Es stehen zudem auch drei Landtagswahlen bevor. Vor allem die im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Und dort wird sich vielleicht bereits die weitere Zukunft der SPD entscheiden. Mit Martin Schulz.