Die neue Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)“ möchte den Rechtsstaat noch viel weiter aushöhlen als die abgelehnte sogenannte Durchsetzungsinitiative der gleichen Initianten und ihrer Partei, der SVP. Sie möchte einen wesentlichen Teil des bestehenden gerichtlichen Grund- und Menschenrechtsschutzes aufheben und diesen jetzt nicht nur ausländischen Bürgerinnen und Bürgern, sondern uns allen wegnehmen. Zudem will die Initiative mit den von allen Staaten anerkannten allgemeinen Regeln des Völkerrechts und des Völkergewohnheitsrechtes brechen, indem sie anstelle des daraus zwingend folgenden grundsätzlichen Vorrangs des Völkerrechts das Landesrecht dem Völkerrecht vorgehen lassen möchte.
Die Initiative fordert eine Selbstbestimmung, die bereits besteht
Wenn mit der Initiative neu in unserer Verfassung festgehalten werden will: „Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft“, so wird zu Unrecht suggeriert, dem sei nicht so, und die Rechtslage müsse korrigiert werden. Die Bundesverfassung ist unser oberstes und höchstes Gesetz. Es ist die Bundesverfassung, die Bund und Kantone verpflichtet, das Völkerrecht zu respektieren. Damit sind wir es selbst, die dies so wollen. Völkervertragsrecht ist kein uns von aussen aufgezwungenes Recht, sondern Recht, das wir selber autonom und souverän nach den Regeln unserer Verfassung für uns verbindlich erklären oder auch nicht.
Ein Vorrang von Landesrecht ist rechtlich unsinnig
Die Initianten möchten folgende weitere neue Bestimmung in unsere Verfassung einfügen: „Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.“ Mit dieser neuen Bestimmung – die neben die Bestimmung mit dem klaren Bekenntnis zum Völkerrecht: „Bund und Kantone beachten das Völkerrecht“ zu stehen käme – erklärte die Schweiz, Völkerrecht aufgrund eines Vorrangs von Bestimmungen in unserer Bundesverfassung jederzeit auch missachten können zu wollen. Landesrecht kann jedoch nicht grundsätzlich dem Völkerrecht vorgehen. Das bedeutete, dass ein Vertragspartner letztlich nur seine eigenen, nicht aber die im Vertrag übernommenen Regeln befolgen müsste. Dass Verträge zu halten sind, ist hingegen nicht nur ein völkerrechtlicher Grundsatz, vielmehr ein ganz allgemeiner. Eine Umkehrung des Grundsatzes des Vorrangs des Völkerrechts in sein Gegenteil ist deswegen und weil Völkerrecht seiner Natur gemäss über dem Landesrecht der einzelnen Staaten steht und stehen muss, rechtlich unsinnig; allein Ausnahmen davon sind diskutabel und unter ganz bestimmten Voraussetzungen auch vorgesehen.
Die Initiative bewirkt das Gegenteil von Selbstbestimmung
Die Initiative machte die Schweiz als völkerrechtlichen Vertragspartner unglaubwürdig und schlösse sie aus der Staatengemeinschaft aus. Unsere vielfältigen Staatsverträge sind jedoch gerade für uns als territorial und einwohnermässig kleiner Staat in einer globalisierten Welt und Wirtschaft unerlässlich, weshalb wir im ureigenen Interesse weiterhin als Vertragspartner vertrauenswürdig bleiben müssen. Die Initianten wollen den Ast absägen, auf dem wir sitzen, denn es sind letztlich völkerrechtliche Abkommen, die unsere Souveränität und innerhalb dieser unsere Selbstbestimmung garantieren und ermöglichen. Eine Selbstbestimmung ausserhalb des für alle Staaten geltenden Rechtsrahmens des Völkerrechts sichern zu wollen, ist eine blosse Illusion der Initianten.
Grosse offene Fragen und schädliche Rechtsunsicherheit
Wie der neue Art. 56a BV – wonach völkerrechtliche Verpflichtungen, die der Bundesverfassung widersprechen, neu verhandelt und nötigenfalls gekündigt werden müssen, – überhaupt aussenpolitisch und völkerrechtlich soll umgesetzt werden können, ist vollständig offen. Auch hier erweist sich die Selbstbestimmung, die die Initianten behaupten, mit ihrer Initiative sichern zu wollen, weitestgehend als illusorisch, denn kein Staat kann nach Belieben über die anderen Staaten als Vertragspartner verfügen, auch die Schweiz nicht. Nach der Übergangsbestimmung zur Initiative in Art. 197 BV sollen die mit ihr angenommenen neuen Verfassungsbestimmungen zudem „auf alle bestehenden und künftigen Bestimmungen der Bundesverfassung und auf alle bestehenden und künftigen völkerrechtlichen Verpflichtungen des Bundes und der Kantone anwendbar“ sein. Das verschärfte – wegen der grundsätzlichen Unzulässigkeit einer Rückwirkung von Gesetzen im Rechtsstaat – die mit der mangelnden effektiven Durchsetzbarkeit des Art. 56a grosse und schädliche Rechtsunsicherheit noch. Die Stimmberechtigten kauften mit einer Zustimmung zur Initiative buchstäblich eine Katze im Sack, was in keiner Weise im Sinne der hochzuhaltenden politischen Rechte ist.
Kein gerichtlicher Schutz der Menschenrechte gegen Eingriffe durch Bundesgesetze
Gemäss der Initiative soll nicht mehr Völkerrecht allgemein, sondern würden nur noch „völkerrechtliche Verträge, deren Ratifizierung dem Referendum unterstand“, für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend sein. Mit dieser Änderung von Art. 190 der Bundesverfassung (BV) wäre insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – bei der das heutige Staatsvertragsreferendum noch nicht galt – durch unsere Richter gegenüber Bundesgesetzen nicht mehr anwendbar. Der aus dem 19. Jahrhundert stammende Art. 190 BV bedeutet, dass das Bundesgericht auch verfassungswidrige Bundesgesetze anwenden muss und Rechtsuchenden so gegebenenfalls in ganz stossender Weise erklären muss, sie hätten durchaus Recht, könnten aber nicht Recht erhalten. Diese empfindliche Rechtsschutzlücke wird glücklicherweise durch die EMRK weitgehend ausgefüllt, weil in Art. 190 BV bisher das Völkerrecht und damit auch die EMRK neben den Bundesgesetzen für die Gerichte massgebend erklärt wird. Das erlaubt einen gerichtlichen Schutz der Grundrechte unserer Verfassung wie der in der EMRK garantierten Menschenrechte für uns alle auch gegenüber Bundesgesetzen, da diese Rechte weitgehend miteinander übereinstimmen. Indem die ominöse Volksinitiative mit ihrer Änderung von Art. 190 BV das Recht und die Pflicht unserer Gerichte, die EMRK gegenüber Bundesgesetzen anzuwenden, aufheben will, hebelt sie den Grund- und Menschenrechtsschutz in einem wesentlichen Teil aus, auch wenn wahrheitswidrig immer wieder das Gegenteil behauptet wird. Weil in Art. 190 BV im Gegensatz zur EMRK unsere Bundesverfassung – wenn auch in unverständlicher Weise, wie dargelegt, – in der Rechtsanwendung nicht als gegenüber Bundesgesetzen massgebend erklärt ist, behaupten die Initianten zu Unrecht, der Grundrechtschutz unserer Verfassung sei immer noch gegeben, wenn der Menschenrechtsschutz der EMRK aufgehoben werde. Das Gegenteil ist wahr.
Keine eigenen, nur noch „fremde“ Menschenrechtsrichter
Nach der Initiative würde – was die Initianten offensichtlich übersehen haben, aber nicht mehr ändern können, – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) uns Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz immer noch vor Grund- und Menschenrechtsverletzungen schützen. Zu kündigen wäre die EMRK nach ihrem Art. 56a BV nicht, denn deren Menschenrechtsgarantien widersprechen nicht den Grundrechten unserer Bundesverfassung, wie die Initiative das für einen solchen Schritt voraussetzt. Die EMRK gibt allen Menschen im Vertragsstaat Schweiz das Recht, sich mit einer Beschwerde an den EGMR in Strassburg zu wenden. Dies gerade auch, wenn unsere Gerichte den Grund- und Menschenrechtschutz gegenüber Bundesgesetzen gemäss der Initiative nicht mehr gewähren könnten. Weil die Geltung der EMRK mit der Änderung des allein die Rechtsanwendung durch unsere Gerichte betreffenden Art. 190 BV nicht aufgehoben wird und diese auch nicht zu kündigen ist, schaltete die Initiative nur unsere Richter in der Schweiz beim Grund- und Menschenrechtsschutz gegen Eingriffe in diese durch Bundesgesetze aus, beliesse jedoch in einem eklatanten Widerspruch zum Titel der Initiative die Zuständigkeit der „fremden Richter“ in Strassburg. Dies müsste die Bundeskanzlei veranlassen, den falschen Titel der Initiative nicht zuzulassen, wie das in ihre Zuständigkeit fällt und daher auch ihre Pflicht ist.
Ungültigkeit der Initiative
Die Initiative verletzt jedenfalls den Grundsatz der Einheit der Materie, den Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung wahren müssen. Die weitgehende Aufhebung des Grund- und Menschenrechtsschutzes durch unsere Gerichte mit der Änderung von Art. 190 BV einerseits und die Änderung des Verhältnisses zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht mit den übrigen Änderungen der Bundesverfassung anderseits, sind zwei ganz unterschiedliche Fragen, die die Stimmberechtigten unterschiedlich beantworten können und daher auch können müssen. Nur so kann der Volkswille bei der Abstimmung gemäss der Garantie der unverfälschten Stimmabgabe in Art. 34 BV richtig zum Ausdruck gelangen. Es liegt nahe, dass Stimmberechtigte beispielsweise dem Vorrang von Landesrecht vor Völkerrecht zustimmen wollten, nicht aber der grossen Einschränkung des richterlichen Grund- und Menschenrechtsschutzes für uns alle. Die Bundesversammlung wird die Initiative daher – wenn sie diesen Ungültigkeitsgrund pflichtgemäss ernst nimmt – ungültig erklären müssen und nicht zur Abstimmung bringen dürfen, weil die Stimmberechtigten so ihre Meinung zur Initiative gar nicht richtig bilden und äussern können.
Fazit
Die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative erweist sich als eine Anti-Menschenrechts- und Anti-Völkerrechtsinitiative. Sie ist aus all den genannten Gründen indiskutabel und kann nur abgelehnt werden, wenn sie nicht ungültig erklärt wird. Den Initianten und ihrer Partei soll mit einer klaren und deutlichen Ablehnung ihrer Initiative gar keine Plattform gewährt werden, nur um das Völkerrecht und die Grund- und Menschenrechte wie deren wichtigster richterlicher Schutz diskreditieren zu können und so dem Rechtsstaat und damit auch der Demokratie, die mit diesem untrennbar verbunden ist, grossen Schaden zuzufügen.
Club Helvétique, November 2016
(Mitgeteilt von alt Bundesrichter Giusep Nay, Mitglied des Club Helvétique)
*) Der Club Helvétique (CH) bezweckt nach eigenen Angaben die Pflege des eidgenössischen Staatsgedankens und die demokratische, fortschrittliche Entwicklung der Institutionen des Bundes. Er nimmt Stellung gegen alle Bestrebungen, welche die liberalen und die sozialen Grundlagen unserer Willensnation zu zerstören drohen. Er tritt für eine Schweiz ein, die gemeinschaftliche Sorgfalt pflegt. Er kämpft für Freiheit: für eine offene Gesellschaft, die ihre Vielfalt schätzt, und ein offenes Land, das Verfolgte schützt. Der CH versteht das patriotische Erbe von 1848 als Pflicht, die Ideale der modernen Schweiz heute erst recht zu bekräftigen.