Hätte es noch eines Beweises bedurft, wie zerstritten die amerikanische Nation ist, die Feierlichkeiten zum Gedenken an die Terroranschläge des 11. September 2001 wären ein Beweis dafür gewesen. Drei frühere Präsidenten und der Amtsinhaber waren am Event in New York zugegen: Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama und Joe Biden. Auffällig nicht präsent war Donald Trump, der sich zwar kurz auf einer Feuerwache in Manhattan ablichten liess, um danach aber nach Florida zu fliegen und einen Boxkampf zu moderieren. Soviel zum Thema Vereinigte Staaten.
Die Nation ist so zerstritten, wie die Politik es ist. Die Gräben verlaufen nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der politischen Lager, wie es derzeit bei den Demokraten der Fall ist. Angesichts ihrer knappen Mehrheiten im Kongress wäre eigentlich Einigkeit angesagt, am dringlichsten im Senat, wo Joe Bidens Partei bei einem Stärkeverhältnis von 50 zu 50 Sitzen umstrittene Gesetze lediglich dank des Stichentscheids von Vizepräsidentin Kamala Harris verabschieden kann. Opponiert auch nur ein einziger Senator oder eine einzige Senatorin gegen die eigene Partei, droht der legislative Absturz.
Derweil streiten sich bei den Demokraten im Abgeordnetenhaus Linke oder Progressive und Zentristen oder Moderate, wobei solche Etiketten mit Vorsicht zu geniessen sind, da sie der parlamentarischen Realität nur bedingt gerecht werden. Etwa dann, wenn konservative Demokratinnen und Demokraten, die sich gegen die Politik des Weissen Hauses stemmen, im Gegensatz zu Progressiven als Moderate tituliert werden, während wirklich Moderate die Politik des Präsidenten unterstützen.
Auch Joe Biden selbst behagen die fraglichen Bezeichnungen nicht: «Bei diesen Gesetzen geht es nicht um links gegen rechts oder um moderat gegen progressiv oder um irgendetwas, das Amerikanerinnen und Amerikaner einander gegenüberstellt», hat er jüngst gesagt: «Bei diesen Gesetzen geht es um Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Selbstgenügsamkeit. Es geht um Fortschritt gegenüber Niedergang.»
Es geht derzeit zum einen um eine eminent wichtige Gesetzesvorlage, über deren Umfang sich die Demokraten uneinig sind. Ihre Annahme oder Ablehnung könnten über den Erfolg von Joe Bidens Präsidentschaft und die Erfolgsaussichten der Demokraten bei den Zwischenwahlen 2022 entscheiden. Es geht um die Build Back Better Agenda (BBB) des Weissen Hauses, eine 2’465-seitige Vorlage, die für die nächsten zehn Jahre Investitionen im Sozialbereich von 3,5 Billionen Dollar vorsieht. Dazu zählen etwa Kindergeld, kostenfreie höhere Bildung und bessere Krankenversicherung. Finanzieren müssten das höhere Einkommens- und Unternehmenssteuern.
Dass sich die Republikaner gegen Steuererhöhungen stemmen, versteht sich von selbst. Dass dies auf demokratischer Seite auch Senator Joe Manchin (West Virginia) und Senatorin Kyrtsen Sinema (Arizona) tun, überrascht schon eher. Beiden sind die 3,5 Billionen Dollar zu viel, wobei Manchin für höchstens 1,5 Billionen plädiert und Sinema sich über ihre Motive ausschweigt. Beide müssen sich 2024 zur Wiederwahl stellen, der Senator in einem Staat, der überwiegend republikanisch wählt, die Senatorin in einem andern, der überraschend einen Demokraten und eine Demokratin in die kleine Kammer entsandt hat. Joe Manchin und Kyrsten Sinema werden denn je nach politischer Perspektive entweder als Verräter verteufelt oder als Volkshelden gefeiert.
Eng mit der Zukunft von BBB verknüpft ist zum andern der Bipartisan Infrastructure Deal (BIF), ein Gesetz, das 1,2 Milliarden Dollar zur Reparatur und zum Ausbau der häufig maroden nationalen Infrastruktur vorsieht. Dem BIF erwächst zwar auch seitens der Republikaner kein Widerstand (der Senat hiess die Vorlage mit 69 Ja-Stimmen gut), doch jetzt verweigern linksliberale Demokraten im Abgeordnetenhaus dem Deal zumindest vorläufig ihre Zusage. Sie wollen erst das Sozialhilfegesetz im Senat verabschiedet sehen und das in einem Umfang, mit dem sie leben können.
Noch bleibt in beiden Kammern in Washington DC bis Ende Oktober Zeit für einen Kompromiss. Fest steht, dass die Demokraten im Senat keine einzige Stimme verlieren dürfen, wollen sie Joe Bidens ambitiösen Plänen zum Erfolg verhelfen. Hinter den Kulissen ist denn das Weisse Haus fieberhaft damit beschäftigt, innerhalb der demokratischen Partei eine tragbare Einigung zu finden.
Leicht dürfte das nicht werden, auch wenn, wie Kommentatoren pathetisch formulieren, die Zukunft Amerikas auf dem Spiel steht. Es sei denn, einzelnen Demokratinnen und Demokraten ist ihr politisches Überleben wichtiger als das Wohl des Landes. Was im Falle Joe Manchins und Kyrsten Sinemas, wie nachvollziehbar ihre Motive auch sein mögen, nicht auszuschliessen ist. Amerika, du hast es nicht immer besser …