Katastrophen können nationale Gesellschaften zusammenschweissen; sie sind auch eine Gelegenheit für den Staat, sich bei den Bürgern Respekt zu verschaffen. Sie können ihn aber auch dazu verführen, umstrittene Gesetze einzuführen, während die Gesellschaft um ihr Überleben kämpft und wegschaut.
Die Bauern ändern ihre Strategie
Dieses Szenario hat sich im ersten Corona-Jahr in Indien abgespielt. Mitten im harten Lockdown legte die Regierung gleich drei weitreichende Gesetze vor, im Bereich der Bildung, des Arbeitsrechts und der Landwirtschaft. Es fand keine öffentliche Diskussion statt, und dank einer automatischen Regierungsmehrheit segelten sie auch durch das Parlament.
Doch als die erste Covid-Welle abebbte, meldeten sich die Bauern zu Wort. Die neuen Landwirtschaftsgesetze drohen die Produktions- und Tauschverhältnisse für sie massiv zu verändern und die strukturelle Krise des Sektors zu verschlimmern, statt sie zu lösen. Delhi, mitten in der nordwestindischen Kornkammer gelegen, wurde zum Schauplatz einer Belagerung durch Tausende von Bauern, die mit ihren Traktoren und Lastwagen die Einfallstrassen in die Haupstadt abriegelten.
Die Regierung sah sich zu Verhandlungen gezwungen, war aber nicht bereit, eine breite Konsultation durchzuführen und die Gesetzeseinführung währenddessen zu sistieren. Die Verhandlungen versandeten, und der Showdown bei der Parade am Tag der Republik (26. Januar) brachte keine Entscheidung. Kurz darauf begann die zweite Welle, und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung galt nun buchstäblich dem eigenen Überleben.
Für die Regierung kam sie wie gerufen. Die Bauern räumten die Barrikaden der Budenstadt, die sie an drei neuralgischen Punkten um die Hauptstadt gelegt hatten. Sie mussten sich gegen den Vorwurf der staatlich gelenkten Trolls in den Sozialen Medien wehren, die Bauern-Blockade sei schuld für die Knappheit an Sauerstoffbehältern und Medikamenten. Zudem galt es, die Ansteckungen unter den mehreren Tausend Protestierenden in den Zeltlagern zu begrenzen, die hochgradig gefährdet waren und nicht auf staatliche Hilfe zählen konnten.
Doch wer geglaubt hat, dass die Pandemie einmal mehr der Regierung in die Hände spielen würde, sieht sich getäuscht. Die völlig kopflose Reaktion der Regierung auf das Anschwellen der Ansteckungen hat das Renommee des Premierministers zum ersten Mal ernsthaft beschädigt. Dagegen konnten sich die Bauern aus der politischen Ecke herauskämpfen, nachdem sie ihren Haupttrumpf – die Abschnürung der Hauptstadt – aufgegeben hatten.
Sie haben ihre Strategie geändert. Statt sich gegen die neuen Gesetze heiser zu schreien, nehmen sie die Regierung direkt aufs Korn. Und statt in ihren Zeltlagern auszuharren, sind sie überall dort aktiv geworden, wo sie bei der Covid-Krisenbewältigung helfen können, wohlwissend, dass sie damit auch die Regierung blossstellen.
Geschwächte Modi-Regierung
Sikh-Bauern errichteten vor mehreren umlagerten Spitälern der Hauptstadt ihre Langars – Suppenküchen –, spendeten Wasser, organisierten zusammen mit NGOs Transporte von schwerkranken Wartenden zu Spitälern mit verfügbaren Betten. Gleichzeitig ergreifen sie jede Gelegenheit, vor Ministerien und auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren. Sie werben weiterhin für ihre bäuerlichen Anliegen, doch je mehr sich die schwache Covid-Strategie zur politischen Krise entwickelt, desto mehr weiten sie ihre Kritik auf die Regierung aus.
Die Bauernführer wissen, dass eine geschwächte Regierung im Streit um ihr eigenes Kernanliegen eher zum Nachgeben gezwungen werden kann. Die landesweite Krise gibt ihnen die Chance, den Versuch der Regierung zu entkräften, dass sie nur die „reichen“ Sikh-Bauern des Panjabs vertreten. Mehrere hundert streikende Bauern beteiligten sich am Wahlkampf für die Provinzwahlen in Westbengalen. Sie nutzten die Auftritte, die ihnen die Oppositionspolitikerin Mamata Banerjee bei Wahlkampfanlässen einräumte. Sie errichteten ihre Langars, kochten Reis und Dal – und verteilten ihr Propaganda-Material.
Der überraschend klare Sieg Mamatas in Kolkata gegen die BJP wurde in den drei Zeltlagern rund um die Hauptstadt frenetisch gefeiert. Und bereits bereiten sich die Bauernführer auf den Wahlkampf im bevölkerungsreichen und ländlichen Uttar Pradesh vor, das nächstes Jahr sein Parlament erneuert. Sie denken sogar an die Gründung einer neuen Bauernpartei, die sich mit anderen Oppositionsparteien verbünden könnte.
Verhandeln statt Säbelrasseln mit China
Der “Bauernkrieg“ ist nicht der einzige Konflikt, der im Scheinwerferlicht der Pandemie eine (mediales) Schattenleben führt. Auch der Grenzstreit zwischen den Armeen Indiens und Chinas in Ladakh ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Im Unterschied zum innenpolitischen Streit scheint die Pandemie (und vielleicht auch die eisige Winterstarre auf den Himalaya-Höhen) dafür gesorgt zu haben, dass die Regierungen beider Länder zu einem Modus vivendi zurückgefunden haben. Grundsätzliche Differenzen in Bezug auf die Grenzziehung bleiben bestehen. Doch beide Seiten haben sich darauf geeinigt, diese in Verhandlungen (und nicht mit Säbelrasseln) zu reduzieren.
Wie kam es zu dieser militärischen Entflechtung? Beide Länder waren letztes Jahr beinahe in einen grösseren Grenzkrieg gerutscht. Chinesische Truppen hatten an fünf Orten im westlichen Ladakh-Sektor Beobachtungsposten besetzt, die im vertragslosen Niemandsland zwischen den beiden offiziellen Grenzen liegen, aber von Indien durch regelmässige Patrouillengänge kontrolliert wurden. An einem der Punkte war es am 15. Juni 2020 zu einem Handgemenge gekommen – beide Seiten hatten auf den Einsatz von Feuerwaffen verzichtet –, bei dem fünfzehn indische Soldaten und vier Volksarmisten starben.
Darauf einigten sich beide Seiten auf eine Beruhigung der Lage und Unterhandlungen zwischen den Sektor-Kommandanten. China hatte Territorialgewinne erreicht und schien sich damit zu begnügen. Indien war in einer taktisch unterlegenen Position und wollte zuerst Zeit gewinnen. Auch die Öffentlichkeit in beiden Ländern war auf den Kampf gegen die sich ausbreitende Epidemie fixiert, und die Medien richteten ihre Aufmerksamkeit dementsprechend allein auf diese.
Im Windschatten dieses Desinteresses und dem beidseitigen Verzicht auf aggressive Drohgebärden begann Indien, im Aufmarschgebiet innerhalb seiner Grenzen die militärisch schwach besetzten Positionen zu verstärken. Gleichzeitig suchte es eine Möglichkeit, die militärische Unterlegenheit durch ein Vorrücken über die „Line of Actual Control“ an einer anderen Stelle im gleichen Ladakh-Sektor auszugleichen.
Am 29. August 2020 überschritten indische Truppen in Kompaniestärke die „Kontroll-Linie“ in der Kailash Range östlich des akuten Konfliktherds. Dies geschah an einem nicht besetzten strategisch wichtigen Pass namens Spanggur Gap, von dem aus eine Offensive gegen eine grosse chinesische Grenzgarnison lanciert werden könnte.
Die chinesische Seite sei von der Aktion überrascht worden, schrieb der Indian Express am 19. Apri 2021. Ebenso stark wirkte offenbar eine andere Drohgeste Indiens: Die Soldaten gaben Warnschüsse in die Luft ab. Es war ein Hinweis, dass die indische Armee die Rules of Engagement – Verzicht auf Feuerwaffen – geändert hatte, nachdem ihre Soldaten zwei Monate zuvor von den Stöcken, Steinen und Keulen der Volksarmisten überrumpelt worden waren.
Beschwichtigungssignale auf beiden Seiten
Aus indischer Sicht führte dies zu einem ausgeglichenen Kräfteverhältnis. Dem Verlust von einigen Quadratkilometern Territorium stand nun die Besetzung einer strategisch wichtigen Stellung entgegen. Es kam Bewegung in die Verhandlungen zwischen den Kommandanten. Der chinesische General, der die ganze Aktion in Ladakh ausgelöst hatte, wurde ersetzt, und am 20.Dezember signalisierte dessen Nachfolger die Bereitschaft Chinas, „vorwärts zu machen“. Zum Zeitpunkt der elften Gesprächsrunde am 9. April 2021hatte sich die Volksarmee aus drei der fünf Positionen zurückgezogen, und Indien macht offenbar Anstalten, den Spanggur-Pass wieder zu räumen.
Es ist wahrscheinlich, dass sich der Ausschluss einer nationalistisch aufgeladenen öffentlichen Meinung in beiden Ländern positiv ausgewirkt hat. Die seit vielen Jahren eingespielten Mechanismen der Konfliktkontrolle konnten – zusammen mit einigen taktischen Finten auf dem Boden – wieder greifen und eine De-Eskalation ermöglichen. Man muss der Modi-Regierung zugutehalten, dass sie der Versuchung widerstand, die Gegnerschaft zu China für nationalistische Propagandazwecke hochzuspielen. Und ihrer Inkompetenz in der Covid-Bewältigung ist es zu verdanken, dass sie im Streit mit den Bauern nun zu geschwächt scheint, um die umstrittenen Gesetze durchzusetzen.