Die Architekturbiennale in Venedig nabelte sich 1980 von ihrer grossen Mutter, der Kunstbiennale, ab und findet seit 2000 mehr oder weniger regelmässig im Zweijahresrhythmus statt. Die diesjährige Ausgabe hätte schon 2020 eröffnet werden sollen, doch aus sattsam bekannten Gründen musste sie auf diesen Sommer verschoben werden.
Hauptkurator ist der libanesisch-amerikanische Architekt und Dozent Hashim Sarkis, der mit dem Titel „How will we live together?“ explizit die Zukunft thematisieren wollte. Doch so aktuell und nachvollziehbar die Frage auch ist, die Antworten der Biennale sind über weite Strecken kaum verständlich. Mit anderen Worten: Diese 17. Ausgabe ist ganz schön anstrengend.
Überzeugende Schweizer Beiträge
Der Hauptpavillon mit den labyrinthisch angelegten Räumen überquillt vor lauter Bildschirmen, Installationen, Infotafeln und Lautsprechern. Einen roten Faden zu erhaschen, erscheint als ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist eine visuelle und vor allem eine intellektuelle Überforderung. Am Ende bleiben Schlagworte: protecting global commons, transcending the urban-rural divide, linking the levant, seeking refuge usw. Man schreitet von Installation zu Installation und ist in der Hauptfrage so klug als wie zuvor. Doch zwei Beiträge vermögen zu überzeugen. Sie stammen erfreulicherweise aus der Schweiz.
Für den einen dieser Lichtblicke zuständig sind Fabio Gramazio und Matthias Kohler. Sie geben als Hauptverantwortliche Einblick in die Entstehung des DFAB-Hauses in Dübendorf, das weitgehend mit Robotertechnik errichtet wurde. Das Gebäude steht für eine technologische Revolution, die den Bauprozess in Zukunft mehr und mehr bestimmen wird.
Der andere positiv auffallende Schweizer Beitrag: Anne Kockelkorn und Susanne Schindler rollen auf einer überdimensionierten Tafel die Erfolgsgeschichte des stadtzürcherischen Genossenschafts-Wohnbaus auf und deuten mit Modellen mögliche Entwicklungen an. In der Tat erstaunt die Tatsache, dass ausgerechnet in Zürich, dem Finanzzentrum der Schweiz, etwa zwanzig Prozent der Wohnungen der Spekulation entzogen sind und dass sich dadurch nicht nur begüterte Einzelpersonen oder „Dinks“ Wohnraum leisten können. Die Frage „How will we live together?“ hat Zürich im Grunde schon beantwortet.
Vorwärts und zurück in die Zukunft
Auch bei den Länderpavillons gibt es einige Lichtblicke, obschon sich allzu oft Ratlosigkeit einstellt. Im deutschen Pavillon beispielsweise ist man aufgefordert, die absolut leeren Räumen mit einem Programm, das mit einem QR-Code auf das eigene Smartphone übertragen wird, zu erkunden. Damit soll man in das Jahr 2038 reisen, doch dazu muss man sich nicht einmal nach Venedig begeben. Man kann zuhause über die Adresse 2038.xyz zu ergründen versuchen, was das deutsche Team vermitteln will.
Kanada beschreitet einen ähnlichen Weg. Wer die Bedeutung des fast ganz in Grün eingepackten Baus erfassen möchte, ist mittels QR-Code auf Instagram verwiesen. Die Message dieser Installationen: Wer in der Zukunft überleben will, muss in der Welt der digitalen Vernetzung sattelfest unterwegs sein.
In drei Länderpavillons reist man auf je eigene Weise zurück in die Zukunft. Im japanischen Pavillon liegen schön geordnet die Einzelteile eines 1954 gebauten und bis 1982 mehrfach erweiterten Hauses, das architektonisch vollkommen unbedeutend ist. Das Material wurde inventarisiert und für diese Ausstellung nach Venedig transportiert. Es ist eine Hommage an die Arbeit der Handwerker und auch eine Verneigung vor der Einfachheit und Sparsamkeit des Bauens für die Massen.
Ganz ähnlich zelebriert Finnland seine Nullachtfünfzehn-Häuser. In den 1940er-Jahren kamen verschiedene Haustypen im Baukastensystem auf den Markt. Trotz industrieller Produktion war individuelle Vielfalt möglich. Vor den amerikanischen Pavillon setzte man ein riesiges begehbares Holzskelett, das für die uramerikanische Balloonframe-Konstruktion steht. Es sei — so die Kuratoren — das am meisten missachtete architektonische Thema in den USA. Solche architekturhistorischen Rückblicke zeigen, dass für manche Probleme der Zukunft Lösungen aus der Vergangenheit wieder aufgegriffen werden könnten.
Dass nicht die hochdekorierten Heroen der Architektenzunft die Zukunft verändern werden, sondern Bürgerinitiativen in den städtischen Dschungeln, wird im französischen Pavillon mit Videos, Bildern und Texten zu Initiativen in Metropolen wie Hanoi, Detroit, Bordeaux, Johannesburg, Buenos Aires, Mérignac und Soweto dargelegt.
Essentiell: Wasser und Freiräume
Eindrücklich ist die Installation im dänischen Pavillon, in dem die Wichtigkeit des Rohstoffs Wasser nicht etwa mit öden Statistiken erklärt, sondern mit einem komplex inszenierten Kreislauf erlebbar gemacht wird. Das Regenwasser wird gesammelt und durch die Räume zu verschiedenen thematischen Zonen gelenkt. Man passiert eine künstliche Bodenstruktur mit Wasserläufen, danach eine Küche, in der man das aufbereitete Wasser trinken kann, weiter ein raumhohes Holzgestell mit zahlreichen Teepflanzen, die bewässert und geerntet werden, und endet schliesslich auf einer vom Wasser umgebenen Wellnessoase mit Sitzmöglichkeiten. Formale Experimente sucht man hier vergebens, und doch wird hier am Beispiel Wasser eindrücklich vorgeführt, was in Zukunft beim Bauen wirklich zählt.
Ironisch und witzig richtete England die Räume mit dreidimensionalen Paraphrasen aus Boschs «Garten der Lüste» ein, um provokative Fragen zum Umgang mit dem öffentlichen Raum in Zukunft zu stellen. Warum ist der öffentliche Bereich so knapp, warum wird die grosszügige Einzonung von Boden mit der damit verbundenen Privatisierung erlaubt? Die Schau stellt die Frage, warum nicht alle öffentlichen Räume wie Boschs Utopie designt sind, nämlich ohne Schranken und zugänglich für alle.
Schweizer Pavillon: beliebig
Das von einer Gruppe von Architektinnen, Filmemachern, Künstlern und Kunstvermittlerinnen erarbeitete Schweizer Projekt fand in den heimischen Medien viel Anerkennung. 2019 und noch einmal kurz vor Ausstellungseröffnung reisten die jungen Projektverantwortlichen mit einem Truck zu Bewohnerinnen und Bewohnern an der Schweizer Grenze. Diese sollten ihre Wünsche und Utopien formulieren und unter Anleitung der Fachleute in Form von Modellen darstellen. Der Arbeitsprozess wurde filmisch festgehalten. Die 49 Modelle bilden mit Projektionen von Filmausschnitten und Kommentaren im Internet ein recht chaotisches Ensemble. Inhaltlich wird überhaupt nicht klar, was die Menschen an der Landesgrenze beschäftigt und ob sich das Leben an der Peripherie von jenem im Landesinneren überhaupt wesentlich unterscheidet.
Wollte man den Gesamteindruck dieser Biennale mit einem Bild ausdrücken, so würde sich dafür die Installation im spanischen Pavillon anbieten (Bild ganz oben). Kaum hat man die Schwelle überschritten, befindet man sich inmitten von unzähligen im Raum schwebenden Zetteln, auf denen bei genauerem Hinsehen Projektbeschreibungen zu lesen sind. Doch diese Informationen verschwinden in der Masse. Es entsteht — so die Initiatoren — eine Wolke der Unsicherheit angesichts der Flut von Vorschlägen und Lösungen. Diese Wolke ist nicht nur eine Metapher für das Tohuwabohu der diesjährigen Biennale, sondern auch eine ihrer poetischsten Installationen.
Die 17. Architekturbiennale dauert noch bis 21. November.
Nähere Informationen: www.labiennale.org/en/architecture/2021
Alle Fotos: Fabrizio Brentini