Seit 2009 leitet Kathleen McNurney die Tanz-Kompanie am Luzerner Theater. Die Amerikanerin kam vor 30 Jahren in die Schweiz, als Tänzerin in Heinz Spoerlis Basler Ballett. Das Leben mit ihrer Tanz- und Balletttruppe gleicht dem einer Managerin. Ein Treffen kurz vor der nächsten Premiere.
Wie soll man sich den Alltag einer Tanzchefin vorstellen? Ballettschühlein und Spitze? Tütü und Schwanensee? Artistische und federleichte Körperverrenkungen? Alle und alles in Bewegung?
Das Letztere stimmt. Alles andere ist Klischee. Die US-Amerikanerin Kathleen McNurney bedient diese Klischees nicht oder nicht mehr. Sie ist künstlerische Leiterin Tanz im Team von Benedikt von Peter, des neuen Intendanten des Luzerner Theaters. Und dort verantwortlich für das Tanz-Programm am Luzerner Theater.
Wir treffen sie zum Gespräch im Südpol. Dort hat sie ihr Büro. Und dort trainiert ihre Tanz- und Balletttruppe.
14-Stunden-Tage
Eine Tanzchefin ist eine Managerin. Sie eilt von Termin zu Termin. Begrüsst – plant – disponiert – organisiert – überlegt – telefoniert – rechnet – budgetiert – verhandelt – bittet – kritisiert – regt an – reist – juriert – unterrichtet – coacht – entscheidet – befiehlt – gibt Feedback – sucht Sponsoren – engagiert – entlässt – lobt – träumt – rennt – widerspricht – ermutigt – fordert – bittet – resigniert – lächelt – steht auf – überzeugt – vermittelt – macht möglich.
Ein 14-Stunden-Tag ist für Kathleen McNurney keine Seltenheit. Von einem Manager in der Wirtschaftswelt unterscheidet sie sich jedoch klar punkto Gehalt. Aber darüber mag sie nicht klagen. Für sie gilt wohl Ernst Buchwalders Wortspiel «salaire – c’est l’art».
Mit 35 hören die meisten auf
Hunderttausende drängen sich weltweit in Ballettschulen auf dem Weg zu ihrem Traumberuf. Sie quälen und bewerben sich, werden engagiert und abgewiesen und ziehen weiter. Mit 35 hören die meisten auf. Der Körper schafft es nicht mehr. Sie steigen aus, wechseln in den Unterricht, werden Physiotherapeuten oder gehen in die Modebranche oder landen ganz woanders.
Einige schaffen es als Choreographen, andere werden Ballettmeisterinnen, nur wenige bringen es zur Tanzchefin. Je weiter oben, desto mehr Männer – das gilt auch hier. Sie sei keine Feministin, sagt Kathleen McNurney. Sie sehe aber nicht ein, wieso gleiche Arbeit nicht gleich entlöhnt werden soll. Das wäre nicht mehr als fair.
Bach statt Opern
Als Kind wollte Mc Nurney Pianistin werden. Zu Hause in Portland gab es aber kein Klavier. Die Eltern geschieden, der Vater verschwunden, die Mutter alleinerziehend. Mit sieben beginnt sie mit Ballettunterricht. Musik? Beatles statt Rolling Stones – Tina Turner und Pink Martini – Bach und Chopin statt Opern. Nach der Highschool geht sie mit einem Stipendium nach New York, um sich im Tanz weiter ausbilden zu lassen.
Danach folgen Engagements als Profitänzerin in Irland und Paris. Hier wird sie von Heinz Spoerli entdeckt. Dieser hat eben seine Weltkarriere als Choreograph gestartet und holt sie nach Basel. Zum ersten Mal die Schweiz! Ihr Eindruck: «So ruhig …»
Von Publikum und Presse gefeiert
In Basel arbeitet sie mit Horst Statkus. Dieser leitet neben dem Theater Basel ab 1989 auch das Luzerner Theater. Er holt sie als Ballettmeisterin nach Luzern. Seither wohnt Kathleen McNurney in Luzern.
Als die neue Intendantin Barbara Mundel (1999 bis 2004) auf ein eigenes Ballett-Ensemble verzichtet, wird Kathleen zur SBB-Pendlerin. Neben anderen Engagements fährt sie regelmässig zu Heinz Spoerli ans Zürcher Opernhaus.
In der Ära Mentha, die 2016 endete, baut sie am Luzerner Theater die Sparte Tanz neu auf. Als Tanzchefin im Team von Benedikt von Peter holt sie unter anderem den Österreicher Georg Reischl und den Brasilianer Fernando Melo als Gastchoreographen ans Luzerner Theater.
«Kinder des Olymps» etwa begeisterte im Dezember Publikum und Presse und wird als technisch-artistisches Feuerwerk gefeiert. Demnächst steht «Tanz 24: Timeless» auf dem Programm.
Die Schweiz sei toleranter geworden
Und die Schweizer Mentalität? Ruhig, zuverlässig, zurückhaltend. In Deutschland sei man direktiver. In Irland, wo ihre Vorfahren herkommen, sei man lebensfreudiger, musikverrückter, sozialer, weniger diszipliniert. In den USA sei gut nicht gut genug, man sei ehrgeiziger und riskiere mehr.
In der Schweiz sei die Toleranz in den letzten 30 Jahren grösser geworden: «Ich lebe sehr gerne hier und fühle mich als Teil dieser Gesellschaft.»
Ihre Einschweizerung erlebt sie Jahre nach dem berühmten Film noch ganz nach dem Strickmuster von «Die Schweizermacher». Nirgends hat Kathleen McNurney länger gewohnt als in Luzern. Auf dem Vierwaldstättersee, im Segelboot ihres Partners, erholt sie sich von der Hektik ihres Managerinnen-Alltags. Mehr Meer als Berge – schliesslich ist sie am Meer aufgewachsen. Sie kocht gerne – Mittelmeerküche – mehr Fleisch als Vegi.
Workshops für Senioren
Auf ihre Initiative bietet sie seit einigen Jahren für Pro Senectute «Shall we dance» an – ein Tanzworkshop mit älteren Menschen. Daraus ist «Look at me» entstanden – eine einstündige Tanzproduktion mit 40 Seniorinnen und Senioren, die heuer auf der Bühne des Luzerner Theaters auftraten.
Sie arbeitet gerne mit jungen Leuten. Ihr Team ist kreativ, experimentierfreudig, chaotisch und engagiert. Sie ist neugierig, hört zu, diskutiert und ermöglicht. Sie treibt mässig Sport: Wandern in der Stadt und im Appenzell, der Heimat ihres Partners.
Von ihrer Wohnung am Reusswehr kommt sie jeden Morgen zu Fuss zum Südpol in Kriens. Sie absolviert ihr tägliches persönliches Gymnastik-Programm. Halbmarathon und Fitnesscenter sind nicht ihr Ding. Sie liebt und lebt den Wechsel von Gasgeben und Abschalten.