Er klingt in meinen Ohren widersprüchlich. Denn ich gehe nicht ins Schwimmbad, um zu baden, sondern um zu schwimmen. Entweder schwimme ich oder bade ich. Tertium non datur.
In der Aare zum Beispiel schwimme ich nicht, sondern werde ich „geschwommen“. Wie Brecht schrieb: „Natürlich muss man auf dem Rücken liegen/ So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen./ Man muss nicht schwimmen, nein, nur so tun,/ als gehöre man einfach zu Schottermassen.“ Befinde ich mich mit Freunden oder Bekannten an einem Seeufer oder einem anderen „plantschbaren“ Gewässer und werde ich zum Bade geladen, lehne ich mit freundlicher Schroffheit ab: Ich bade nicht, ich schwimme; und um zu schwimmen, brauche ich ein Becken, brauche ich eine Bahn, brauche ich hermetische Gradlinigkeit. Ich weiss, das mutet stur an. Was man mir auch schon als leicht zwanghaftes Verhalten attestierte, obzwar mit scherzhaftem Befremden. In Charles Sprawsons „Kulturgeschichte des Schwimmens“ lese ich, der Schwimmer sei „in einem Masse auf sich selbst und seinen von Wasser umhüllten Körper konzentriert, dass er leicht zum Opfer von Wahnvorstellungen und Neurosen werden kann“.
Schwimmen ist auch eine geistige Tätigkeit
Nein, soweit bin ich nicht, werde ich nicht sein. Aber das Bahnenziehen hat eine Bedeutung, die weit über das Sportiv-Körperliche hinaus ins Kulturell-Geistige hineinreicht. Das manifestiert sich schon oberflächlich daran, dass man unter Geistesgrössen – in Literatur, Kunst, Wissenschaft, Politik – viele passionierte Schwimmer findet. Eines der fast unbekannten intellektuellen Wunderkinder des 20. Jahrhunderts, der Cambridger Mathematiker und Philosoph Frank Ramsey, starb 1930 26-jährig an einer Leberinfektion, die er sich wahrscheinlich beim Schwimmen im Cam zugezogen hatte. Ob man unter passionierten Schwimmern auch viele Geistesgrössen findet, lassen wir hier ausser Betracht.
Es geht mir nicht um das unbestrittene physische und psychische Tonikum des Schwimmens. Das Thema haben Wellness- und Mindfulnessratgeber sich längst unter den Nagel gerissen. Der Meeresbiologe und „Wasserkrieger“ Wallace J. Nichols schrieb zum Beispiel ein vielbeachtetes Buch – „Blue Mind“ – , in dem er beredt bis evangelisierend für eine Spiritualität des Wassers plädiert. Die allgemeinverständliche Botschaft: Wasser ermöglicht ein gesünderes, erfüllteres, kreativeres Leben. „Es ist der Ort, wo man Schwierigkeiten lösen kann. An welchem Punkt du auch immer in deinem Leben stehst, du bist mit dem Wasser verbunden. Es kann der Schlüssel für alles sein.“ Das klingt schon fast wie bei den mittelalterlichen Alchimisten, die nach einem universellen Lösungsmittel – dem „Alkahest“ – suchten, um daraus Gold und ewige Glückseligkeit zu gewinnen.
Schwimmen in der Sprache
Der Schriftsteller und Langstreckenschwimmer John von Düffel vergleicht Schwimmen mit Lesen und Schreiben, also mit einer elementaren Kulturtechnik. Lesen kann man ja eigentlich auch als ein Schwimmen ansehen, als ein Schwimmen in der Sprache. Sprache ist quasi das Wasser des Geistes. Und ein Text lässt sich wie eine Schwimmbahn gebrauchen. Man macht in ihm „Züge“, um sich immer mehr in „seinem Element“ zu fühlen. Wie der versierte Schwimmer im Wasser gar nicht mehr merkt, dass Wasser um ihn ist, so merkt der versierte Leser auch nicht, dass er eigentlich in einem Text schwimmt.
Auch im Schreiben zieht man Bahnen: Satzbahnen. Man schreibt Sätze, macht mit ihnen „Stösse“ und „Züge“, und diese gelingen mehr oder weniger. Manchmal ergeben sie eine geschmeidige Schwimmfigur, manchmal wollen sie sich partout nicht zusammenfügen, sind sie zerhackt. Ich schreibe jeden Morgen zuerst ein paar Sätze einfach so hin oder schreibe ein paar ab, nur um „Bahnen zu ziehen“. Nichts schaut scheinbar heraus, und doch ist man dann auf alles vorbereitet. Man disponiert sich für das mögliche Unerwartete, das gelungene Schreiben oder Schwimmen. Der Philosoph Odo Marquard schrieb den schönen Satz. „Wir sind meist mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen.“ Das gilt für sportliche wie für intellektuelle Leistungen.
Kondition und Disziplin
Gelingen im Schwimmen und Schreiben setzt Kondition und Disziplin voraus. Sie ermöglichen den glücklichen Zufall. Er „fällt“ einem nämlich nicht einfach so „zu“. Er braucht Vorbereitung. Ich muss mich oft überwinden, schwimmen zu gehen, und auch das gehört zur „Leistung“. Es handelt sich dabei nicht um eine äussere Überwindung, etwa in Anbetracht widriger Wetterbedingungen oder der Wassertemperatur, sondern um eine innere Überwindung, eine Art von Autokatalyse. Sie macht mich fit für das Zufällige. Dabei stimme ich John von Düffel absolut zu: „Die Kondition, die das Schreiben erfordert, (ist) sehr viel körperlicher und die Disziplin beim Schwimmen sehr viel geistiger, als man glaubt.“
Schwimmen und Tauchen
Schwimmen lernen bedeutet für die meisten erst einmal Tauchen lernen. Man erlebt dabei diesen typischen Schwebezustand unter Wasser. Normalerweise kommen Kinder von unten – antigravitativ – an die Oberfläche. Es ist, als ob sie sich zunächst ganz mit dem Element Wasser vertraut machen müssten, um dann an die Luft zu stossen. Eine Art zweite Geburt. Oder eine Rekapitulation des evolutionären Sprungs vom Wasser- zum Landtier. Dabei macht der Novize noch eine andere Grunderfahrung: Loslassen. Man lässt die Hilfe der elterlichen Arme oder des Schwimmgürtels los, setzt sich aus, lernt den Auftrieb als Freund kennen und schätzen. Und hier passiert einer der wichtigsten biografischen Sprünge: man kann es selber.
Ins Schwimmen kommen
Damit hängt wohl auch eine Redensart zusammen: Man kommt ins Schwimmen, wenn man sich einer Sache nicht sicher fühlt, etwas nicht versteht. Ich deute das so, dass man sich in unsicheren Situationen plötzlich wieder der Technik des Schwimmens entsinnen muss, um an der Oberfläche zu bleiben. Im buchstäblichen wie übertragenen Sinn. So kann man auch in einem Text ins Schwimmen geraten: die üblichen Lesetechniken und Interpretationsmuster helfen einem nicht weiter. Man fällt aus Routinen des Lesens, droht im Fluid der Wörter unterzugehen. Das kann einen positiven oder einen negativen Effekt zeitigen. Literatur, zumal Lyrik, erkundet oft die Grenzgewässer des Sagbaren, und springt man hinein, müssen die Schwimmbewegungen des normalen Lesens überprüft werden, was auch zu einer Erweiterung der Lesefähigkeit führen kann. Umgekehrt gibt es einen Schreibstil, der Qualität dadurch vorzugaukeln sucht, dass er den Leser ins Schwimmen geraten lässt. Er generiert meist Texte von der Tiefe eines Kinderplantschbeckens.
Der Mensch ohne Eigenschaften
Platon zitiert in seinen „Nomoi“ ein unter den alten Griechen geläufiges Sprichwort: ungebildet seien jene, die weder lesen noch schwimmen können. Nun möchte ich keineswegs ein antikes Bildungsideal beschwören. Aber eine aktuelle Lektion scheint mir doch in diesem Sprichwort zu stecken. Wir tendieren heute dazu, intellektuelle wie körperliche Fertigkeiten immer mehr an Maschinen, an die Routinen von Programmen abzutreten. Routinen aber sind die Basis des Lernens. Lernen heisst repetieren, rekurrieren, das heisst: eine begonnene Schleife immer wieder durchlaufen. Oder eben auch: Bahnen ziehen. Alle unsere Körper- und Geistestechniken sind in diesem Sinne Routinen. Kreativität beruht auf ihnen, nämlich darauf, dass wir die Schleife aufbrechen. Fortschritt spielt sich ab in den Rhythmen von Repetition und Variation. Man kann das auch beim Schwimmen beobachten.
Vernachlässigen wir das Bahnenziehen, werden wir schliesslich zu „Trockenschwimmern“. Je mehr Eigenschaften wir an Maschinen delegieren, desto mehr werden wir zu Menschen ohne Eigenschaften, zu blossen Fortsätzen der Technik. Schwimmbäder sind Stätten der Bildung. Gerade heute. Deshalb: Bauen wir mehr davon!