Rund dreihundert Kilometer östlich der chinesischen Hauptstadt an der schönen Bohai-Bucht liegt in der Provinz Hebei die Kleinstadt Qinhuangdao (70’000 Einwohner). Beidaihe ist ein Stadtteil von Qinhaungdao am Liangfeng-Berg, heute ein Touristenzentrum für Hunderttausende von Chinesen und Chinesinnen. Die Megastädte Peking und Tianjin sind nicht weit, d. h. eine oder zwei Zugstunden entfernt.
Crème de la Crème
Doch Beidaihe bietet mehr als nur Massentourismus. Zwischen Zedern- und Pinienwäldern verbringen, strengstens getrennt von den Massen, die Crème de la Crème der Kommunistischen Partei, jetzige und ehemalige Führer, ihre Sommerfrische. Doch bereits vor über hundert Jahren badeten an den gepflegten Sandstränden die Reichen des Reichs. Englische Ingenieure, beschäftigt am Eisenbahnbau, errichteten die ersten Villen. Es folgten reiche Chinesen. Während des Boxeraufstandes 1900 wurden die luxuriösen Behausungen in Schutt und Asche gelegt, wenig später jedoch neu errichtet.
Sommerhauptstadt
Nach dem Ende des Bürgerkriegs gegen die Nationalisten 1949 ging es nicht lange, bis Mao Dsedong sich im Sommer erstmals 1953 nach Beidaihe zurückzog. Bereits ein Jahr später erklärte Mao Beidaihe zur Sommerhauptstadt. Chinas Parteifunktionäre berieten sich mit den «älteren Brüder aus der Sowjetunion» und gingen baden. Mao zog die Badehose an und kühlte sich im lauwarmen Wasser der Bohaibucht. 1958 diskutierten, angeleitet vom Grossen Steuermann und Schwimmer Mao, die Errichtung der Volkskommunen und den Grossen Sprung nach vorn. Selbst während der durch den Sprung verursachten Grossen Hungersnot – je nach Schätzung zwischen dreissig und fünfundvierzig Millionen Tote – versammelte sich die Grosskopfete der KP in Beidaihe und verköstigte sich opulent.
Putsch
Erst die von Mao angeschobene Grosse Proletarische Kulturrevolution 1966–76 unterbrach das lockere Baden in Beidaihe. Mao schwamm damals ostentativ im Yangtse-Fluss, um den chinesischen Massen seine Gesundheit und Standhaftigkeit zu demonstrieren. Noch einmal erregte Beidaihe während dieser Zeit Aufsehen. Marshall Lin Biao, der handverlesene Nachfolger Maos, bestieg dort 1971 nach einem missglückten Putschversuch mit seiner Familie das Flugzeug Richtung Sowjetunion. Unter nie geklärten Umständen stürzte das Flugzeug über der Mongolei ab.
Süsse Restanz
Beidaihe wurde erst 1984 wieder zur Sommerhauptstadt. Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping diskutierte dort mit den mächtigsten Parteifunktionären informell die Zukunft Chinas. Deng zog, wie Fotos zeigen, gerne mal die Badehosen an und vergnügte sich am Strand mit seinen Enkeln. Seit jenem Jahr waren auch wieder normale Touristen zugelassen, natürlich hermetisch getrennt von der Parteielite mit ihren reservierten Stränden. Zu jener Zeit war die Reise von Peking noch recht lange, d. h. fünfeinhalb Stunden von Peking. Die Strände waren damals auch noch nicht überfüllt. In den 1980er Jahren zog es bald auch die ersten Auslandkorrespondenten nach Beidaihe, so auch Ihren Korrespondenten, in der Annahme, dass man so nahe am Geschehen das politische Gras wachsen höre. Das war natürlich nicht so. Damals wie heute. Dennoch lohnte sich die beschauliche Sommerfrische. Die Luft war milde und Jod gesättigt, das Essen gut, zumal der Kaffe und Kuchen in einem österreichischen Kaffee, einer süssen Restanz aus der kolonial geprägten Zeit um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert.
Keine Beschlüsse und Direktiven
Heute ist der sommerliche Zugang zu Beidaihe streng geregelt. Polizeikontrollen allüberall. Ohne Sicherheitsausweis kein Baden im Meer. Ein Kollege reiste vor zwei Jahren aus Peking an. Am Strand traf er zufällig einen ihm bekannten Sicherheitsbeamten aus Peking. Der wich ihm, in Badehosen selbstverständlich, nicht mehr von der Seite. Die Retraite in Beidaihe wird in den Medien äusserst selten thematisiert oder auch nur im Kleingedruckten erwähnt. In Beidaihe werden Meinungen ausgetauscht, es wird – wohl hin und wieder auch ziemlich engagiert – diskutiert. Doch Beschlüsse oder Direktiven werden nicht gefasst. In der Regel findet das Partei-Powwow im Juli und/oder im August statt. Das Wann und Ob ist offenbar Staatsgeheimnis.
Im laufenden Jahr jedenfalls deutet viel darauf hin, dass das Treffen anfangs August bereits im Gange war. Diplomaten und Journalisten ziehen diesen Schluss, weil laut offizieller Mitteilung Premier Li Kejiang – die Nummer 2 der KP-Hierarchie – die Präsidentin der UNO-Generalversammlung Maria Fernanda Espinosa in Beidaihe empfangen hat. Ein sicheres Zeichen für Leser grüner Teeblätter, dass es begonnen hat.
«Ungewissheiten»
Viel zu diskutieren gibt es allemal. Selbst jetzt, wo ungleich dem vergangenen Jahr kein Parteikongress ansteht. Das 21 Mitglieder zählende Politbüro – oberstes Organ von Partei und Staat – sah nach der letzten Sitzung vor der Sommerfrische wohl Handlungs- beziehungsweise Diskussionsbedarf, stehe doch China vor «Ungewissheiten», verursacht durch «neue Probleme, neue Herausforderungen und signifikante Änderungen in der externen Umgebung». Der drohende Handelskrieg mit den USA wird deshalb mit Sicherheit in Beidaihe das wohl beherrschende Thema sein.
Gegner oder Feind?
Antworten auf folgende Fragen werden wohl eruiert: Sind die USA ein Wettbewerbsgegner oder ein Feind? Auswirkungen des Handelskrieges auf Wirtschaft und Gesellschaft? Wird der Handelskrieg zu einer Wirtschaftskrise führen? Unmut und Unruhen in der Bevölkerung – was bedeutet das für die Partei? Ist eine friedliche Verjüngung Chinas möglich? Welche Karte soll China spielen? Weiter wie bisher? All diese Fragen basieren auf der Grundlage der seit Beginn der Reform 1979 festgelegten langfristigen Ziele. Bis zum hundertsten Gründungstag der Partei 2021 soll China danach eine «moderat wohlhabende Gesellschaft» werden. Zum hundertsten Geburtstag dann der Volksrepublik 2049 soll das Reich der Mitte zu einem «reichen, mächtigen, demokratischen, zivilisierten und harmonischen Land» entwickelt sein. Das Resultat von Beidaihe 2018 wird kaum aus der Analyse grüner Teeblätter ersichtlich. Erste handfeste Hinweise wird es im Hebst nach der Politbürositzung über die Wirtschaft geben.
Winnie Puuh
Beidaihe ist im übrigen auch ein Mekka für Naturliebhaber, insbesondere für Beobachter von Vögeln. Die lauschigen Wälder sind bekannt als Durchgangsstation für Zugvögel. Der Chinesische Polit-Sommer wäre nicht abgerundet ohne die Erwähnung von Winnie Puuh. Der Teddybär nämlich ist in China politisch höchst inkorrekt und deshalb der neueste US-Winnie-Puuh-Film verboten. Warum? Weil in den sozialen Medien Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping mit dem Honig liebenden Teddybär verglichen wurde. Wäre doch sympathisch, oder? Aber da versteht die Xi-Bürokratie keinen Spass mehr. Dasselbe gilt wohl für die Badehose. Mao und Deng in Badehose, ja! Xi in Badehose, niemals, da sei Winnie Puuh vor!!