Der Name erinnert eher an eine Kinderbuchfigur als an einen Gott. Und tatsächlich gehört Ayyappas Geschichte in Kerala zu den beliebtesten Erzählungen für Kinder: Der zwölfjährige tolpatschige Königssohn, der in den Dschungel geschickt wird, um einen gefährlichen Tiger zu töten, und am Ende auf dem Rücken des Tigers reitend zurückkehrt. Er blieb ein Junggeselle und damit auch ein bisschen Kind. Vor sechzig Jahren wurde das Schlafliedchen für die Kleinen zum offiziellen Pilgerlied erklärt.
Die Pilger, die viermal im Jahr den beschwerlichen Weg zu seinem Schrein in den Bergen Keralas unter die Füsse nehmen, haben allerdings nichts Kindliches an sich. Es sind, und dies zu Hunderttausenden, durchwegs schnauzbärtige Männer, die meisten in schwarzen Hemden, fastend und singend. Nur mit den knappsten Habseligkeiten versehen, trekken sie bis zu vierzig Tage lang aus verschiedenen Himmelsrichtungen in Richtung Sabarimala.
Frauen ausgeschlossen
Das martialische Bild wird noch unterstrichen durch die Abwesenheit von Frauen und damit auch durch das Fehlen der schimmernden Saris, die sonst jede indische Menschenmenge in ein Farbenmeer verwandeln. Frauen über zehn und unter fünfzig – im Menstruationszyklus also – dürfen sich dem Tempel nicht einmal nähern. Ausgerechnet die biologischen Funktionen, die dem Kindesalter so nahestehen, dürfen keineswegs mit dem Kindsgott in Verbindung gebracht werden.
Inzwischen ist Ayyappa nämlich erwachsen geworden und, so erläuterte mir dies einmal ein Keraler, der Anblick einer jungen Frau könnte ihm ja die Sinne verwirren. Wen wundert’s da, dass auch die Pilger ein Reinigungsritual absolvieren. Zusammen mit dem Fastengelöbnis versprechen die Schwarzhemden, während neunzig Tagen sexuelle Enthaltsamkeit zu üben – und diese darf nicht durch die Gegenwart einer Frau ins Wanken kommen.
Muss sich eine Frau auf ihre sexuelle Funktion reduzieren lassen? Und soll sie sich diese Erniedrigung noch von einer religiösen Autorität bekräftigen lassen? Es sind Fragen, die sich immer mehr Frauen (und feministische Männer ebenfalls) stellen. Sie sehen in diesem Tempelverbot eine Verletzung der freien Ausübung ihrer Religion, welche die Verfassung jeder Inderin garantiert.
Intervention des Obersten Gerichts
Gerade in Kerala mit seiner säkularen und egalitären Tradition kam es deshalb immer wieder zu Protesten und Gerichtsbeschwerden. Sie wurden bisher jedesmal abgeschmettert unter Hinweis auf alte Traditionen und die Freiheit, die jeder Religionsgemeinschaft für die Ausübung ihrer Praxis zusteht. Alte Traditionen? Das Tempelverbot für junge Frauen wurde 1956 eingeführt.
Doch nun hat sich das Oberste Gericht eingeschaltet. Statt sich mit einem Hinweis auf die Meinung des zuständigen Landesgerichts aus der Schlinge zu ziehen, hat es ein aufsehenerregendes Urteil gefällt: Wenn es um die Abwägung der zwei Freiheiten geht – der freien Religionsausübung eines Individuums und der freien Gestaltung religiöser Praxis durch die Glaubensgemeinschaft – hat das individuelle Recht Vorrang. Das Tempelverbot in Sabarimala muss weg.
So mutig das Urteil ist, kann man sich doch fragen, ob der Zeitpunkt seiner Vollstreckung klug gewählt war. Er kam am 28. September, nur Wochen vor Beginn eines der vier Zyklen, während denen der Schrein für einige Tage offen ist.
Die kommunistische Regierung stellte sich entschieden hinter den Entscheid und versprach, ihn durchzusetzen. Doch die Tempelverwaltung zeigte sich schockiert und sprach von einer Ohrfeige für den netten Gott. Ayyappa-Vereinigungen schickten ihre Mitglieder auf die Strasse und schworen hasserfüllte Eide auf gewaltlosen Widerstand.
Gottesgeschenk für die BJP
Für die national-religiöse BJP war das Urteil ein Gottesgeschenk, und sie ergriff ihre Chance. Neben dem Nachbarstaat Tamil Nadu ist Kerala jener Bundesstaat, an dem sich die Partei bisher die Zähne ausgebissen hat. Das Gerichtsurteil bietet ihr eine unerwartete Gelegenheit, sich als Verteidigerin einer populären lokalen Tradition beim Wahlvolk anzubiedern.
Dabei weiss sie natürlich auch, dass die Keraler bei aller Fortschrittlichkeit ihrer Politik, ihrer religiösen Toleranz und ihrem Wohlstand immer noch eine Gesellschaft mit starken patriarchalischen – wenn nicht frauenfeindlichen – Wurzeln sind. Und nichts gibt diesem Urgestein so viel Widerstandskraft wie der Rückgriff auf die Religion.
Mythische Verwurzelung der Misogynie
Ausgerechnet der Mythos des herzigen Ayyappa ist ein Ausdruck dieses Denkens. Wer seine Geschichte darauf abzuklopfen beginnt, stellt eine handfeste Misogynie fest. Warum geht Ayyappa in den Urwald auf Tigerjagd? Weil seine Mutter ihn in den Tod schicken will, um Platz zu machen für ihren richtigen Sohn (Ayyappa ist, wie so oft bei Avatars, ein Findelkind).
Dass der Zwölfjährige dennoch siegreich zurückkehrt, hat mit der göttlichen Bestimmung seines Avatars zu tun. Er ist auf der Welt, um die Dämonin Mahishi zu töten, die nichts anderes ist als eine Verkörperung weiblicher Lust.
Die Geschichte nimmt nämlich ihren Anfang bei einer Frau namens Lila (Sanskrit für „Spiel“). Diese wollte ihr Eheleben geniessen und widersetzte sich daher dem Wunsch ihres Manns Datta, gemeinsam zu Asketen zu werden.
Unfähig, Lilas Lebenslust einzudämmen, sucht Datta Hilfe bei den Göttern. Diese verwandeln Lila in eine Büffelkuh namens Mahishi, die tötend und brandschatzend durch die Welt zieht. Ihr kann nur ein Avatar „Herr“ werden, der aus den Lenden sowohl von Vishnu wie von Shiva entspringt – und nur diesen. (Oder wie es ein volkstümlicher Reiseführer offenherzig gestand: von zwei positiven Samen, ohne die negative weibliche Zelle). Mithilfe einer Art von Leihmutter gelingt ihnen dies. Ayyappa ist der sexlose Offspring, unbesudelt von weiblichem Erbgut.
Damit fügen sich die Puzzleteile plötzlich in ihre Formen ein: Die Pilgerschaft ist ein Bussgang der Männer für ihre sündhafte Fleischeslust, deren Schuld bei der Frau liegt. Deshalb die drei Monate Enthaltsamkeit, die schwarzen Uniformen, deshalb das Verbot der Teilnahme von Frauen im zeugungsfähigen Alter, deshalb die Verehrung eines „jungfräulichen“ Gottes, der von keiner Sexualität verunreinigt worden ist. Eva und ihr Apfel lassen grüssen.
Hindu-Nationalisten meiden frauenfeindliches Image
Zufällig fielen die Proteste rund um Sabarimala zusammen mit einer ersten MeToo-Welle in ganz Indien. Die BJP und der RSS, ihre ideologische Ziehmutter, wussten daher, dass es unklug wäre, wenn Proteste gegen den Tempelzugang als ein Kampf zwischen den Geschlechtern gelesen wird. Nächstes Jahr stehen Wahlen an, und man wollte sich keine frauenfeindliche Blösse geben.
Der RSS liess daher Mitglieder seiner Frauenorganisation aus den umliegenden Bundesstaaten nach Sabarimala pilgern. Ohne dass sie den heiligen Bezirk (er beginnt zwanzig Kilometer vor dem Tempeleingang) betraten, gingen sie unter den Eingangstoren als Beschützerinnen von Ayyappas „Reinheit“ in Stellung.
Die hemdsärmligen Frauen durchsuchten Busse und Autos nach jungen Geschlechtsgenossinnen und liessen selbst Journalistinnen nicht weiterfahren. Da sie – lauthals – jeder Gewaltanwendung abschworen, legte sich viele zusammen mit männlichen Pilgern auf die Strasse. Feministinnen – schlimmer noch: Menstruierende! – müssten dann über ihre ausgestreckten Leiber laufen, um weiterzukommen.
In Indien werden Pilgerscharen jeweils nach Hunderttausenden gezählt. Auch bei den Sabarimala-Prozessionen reden die Medien schnell von einer Million Teilnehmern. Die Regierung Keralas musste daher dafür sorgen, dass Polizeieinsätze keine Massenhysterie auslösten. Zudem war ihr klar, dass sowohl die Tempelverwaltung wie viele Polizeikader mit den Traditionswächtern sympathisierten.
Auch die wenigen mutigen Frauen, die sich Zutritt zum Bezirk verschaffen wollten, sahen rasch ein, dass es zwecklos wäre, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Nach einigen Tagen wilder Zusammenrottungen beruhigte sich die Lage. Dazu trug auch das Oberste Gericht in Delhi bei, das sich bereit erklärte, mehrere Review Petitions anzuhören.
Die Agitation über das Tempelverbot zeigt – neben der Flut von MeToo-Zeugnissen sexuellen Missbrauchs – einmal mehr, dass die patriarchalischen Bastionen in Indien noch lange nicht geschleift sind. Zwei Monate, nachdem Kerala von einer Sintflut heimgesucht worden ist und der Welt einen solidarischen Schulterschluss über alle sozialen, politischen und ökonomischen Barrieren hinweg demonstriert hat, liegen die Gräben im Bereich der Geschlechterbeziehungen offen vor aller Augen da. Ein Pilger, vom „Indian Express“ dazu befragt, meinte, lieber wäre er in den Fluten untergegangen, als eine Frau im Sabarimala-Tempel erblicken zu müssen.