uf der Fahrt nach Chittilamcheri machte ich mir einen Spass daraus, die Bilder, die sich in mir beim Wort ‚Ayurveda Resort‘ aufdrängten, wie Blasen platzen zu lassen. Wir würden keine Lotusblumen vorbeigleiten sehen, keine Pujas, keine Gestalten in weissen langen Roben würden uns mit einem Namaste begrüssen; keine sanfte New Age-Musik, die die behutsamen Handgriffe der Masseure begleiten. Schliesslich wollten wir erleben, wie die Inder mit Ayurveda umgehen; da musste man beim Wellness-Kult wohl einige Abstriche machen.
Es war eine heilsame Übung. Das ‚Narayana Ayurveda Chikithsalayam‘ befand sich auf dem Dorfplatz, unmittelbar neben dem Tempel. Von der Strasse mit ihren rasselnden Bussen war man in zwei Schritten im Gästetrakt, auf zwei Stockwerken mit je acht Zimmern, die dem offenen Gang entlangliefen. Die Formalitäten waren im Nu erledigt, dann waren wir bereits in unserem Zimmer, das in der Schweiz mit etwas Glück als Standard-Zweierzelle für Haftanstalten passieren könnte: Zwei Pritschen, ein Deckenventilator, zwei Stühle, ein Rohrtisch, und hoch oben im Wand-Dreieck ein kleiner Fernseher.
Meine nach Heilung schmachtende Haut
Ein Fenster war vergittert, der Blick von einer hohen Ziegelwand blockiert; das andere gab den Blick frei auf den Gang, aber von dort auch in unser Zimmer hinein, wie wir feststellten, als neugierige Insassen ungeniert hereinschauten. Wegen der grossen Hitze, so riet uns Dr.Govind Narayanan, sollten wir die Tür am besten offenlassen, für ein bisschen Durchzug. Das hatten wir bereits bei unseren Nachbarn gesehen, als wir an den ihren vorbeigelaufen waren und unseren Blick verschämt von den liegenden Gestalten abgewandt hatten.
Eine Stunde später war meine Ölsuche zu Ende. Meine Frau war zum Bazar gegangen, um Handtücher und Kissen und Putzmaterial einzukaufen. Ich lag derweil auf einer flachen Kunststoffwanne und wurde mit heissem Öl eingerieben, dann fuhr ein heisser Baumwoll-Stempel, mit Kräutern zu einem harten Klöppel gepresst, kraftvoll auf meine nach Heilung schmachtende Haut. Ich lag in einer der Kabinen, die hinter dem Gästetrakt aufgereiht waren, mit weissen Fliesen verkleidet; von der Betondecke baumelte ein schwarzes Seil, auf dem Boden lag eine ausgefaltete Kartonschachtel, Teppichvorlage und Schmutzfänger in einem.
Krähen und Stöhnen
Zuvor hatte mein Betreuer Suresh ein Gebet an Shiva gerichtet, er möge seinen Patienten schützen und heilen. Er drehte mich um, so dass mein Gesicht Richtung Sonne lag, während seine Fürbitte in den Norden ging, zum Mount Meru, dem Olymp der Götter (und dem Ort, fuhr es mir durch den Kopf, wo für den Hindu der Tod haust).
Die Geräusche von nebenan vermischten sich mit jenen bei mir, und sie sollten bald zur öligen Alltagsmusik dieser Ayurveda-Werkstatt werden – Klatschen, Rinnen, Tropfen, Quirlen, Schwemmen, Brutzeln. Und dazwischen Stöhnen und Schreie, von weit her das Brummen des Generators, Krähen, Traktorengeräusche, Hundegebell.
Spondilitis und Psoriasis
Wir erfuhren bald, dass wir nicht in einer Kur- sondern einer Heilanstalt waren. Statt die Pflege von Wellness, ging es in Chittilamcheri um das ‚Getting well‘, und statt quasi-spirituellen Körperzeremonien gaben die Ärzte und Pfleger hier ihr Bestes, um Kranken zu helfen – bei Spondilitis und Psoriasis, Knochenschwund, Diabetes, Lumbago, den Folgen von Kinderlähmung und Tuberkulose, Asthma und Arthritis.
Wir waren die Paradiesvögel, nicht nur weil wir offenbar die ersten Ausländer waren, die hier abstiegen, sondern weil uns offensichtlich nichts derart Schwerwiegendes belastete. Am Anfang schämten wir uns ein bisschen, als uns Zimmer-Nachbarn fragten (wir waren inzwischen in ein ‚Superior‘-Zimmer mit Raumkühlung umgeteilt worden), was uns denn fehlte. Doch es schlug uns kein Neid entgegen, eher ein bisschen Genugtuung, dass wir den allgemeinen Krankheitspegel im Etablissement etwas senken konnten.
Intensiv ums Soziale bemüht
Wir merkten bald, dass das Private, fast Intime, das bei einer Ayurveda-Kur sonst Vorrang hat, hier keinen Platz hatte. Genauso wie im gesunden Alltag, sind die Inder auch im Kranksein intensiv ums Soziale bemüht. Die Zimmertüren standen offen, man besuchte sich, wenn nicht die Patienten, dann deren Angehörige. Wie in jedem indischen Krankenhaus waren auch in Chiitilamcheri nicht einfach Patienten untergebracht, sondern auch deren Familienangehörige.
Eine junge Informatikerin aus Chennai (nach einer wahrscheinlich fehlgelaufenen Tumor-Operation mit Knochenschwund konfrontiert) teilte ihr Zimmer mit ihrer Mutter (und am Wochenende kam auch der Papa); ein zehnjähriger Junge mit Kinderlähmung wurde von zwei Grosseltern betreut; eine Inderin aus Singapur hatte Schwester und Freundin mitgebracht, und ihr Zimmer ersetzte quasi den Dorfbrunnen, wo Frauen schwatzten und Tagesneuigkeiten austauschten.
‚Jugaad‘ - behelfsmässig
Auch das Personal mischte sich in das ständige Kommen und Gehen auf Gängen und Treppe. Sie taten dies mit fröhlicher Lautstärke, so dass wir uns schliesslich bei Dr.Govind beklagten. Er werde sich darum kümmern, und setzte dann verschämt lächelnd hinzu: „Vielleicht werde ich nur ausgelacht, wenn ich schimpfe, denn ich tue es auch ein bisschen laut. Freunde haben mir einen Übernamen gegeben, der übersetzt bedeutet, ‚der Mann, der ein Mikrofon geschluckt hat‘.“
Was uns störte, war nicht der Mangel an Pflege, sondern an der Qualität der Einrichtungen. Alles sah nach ‚Jugaad‘ aus, der indischen Bezeichnung für die Fähigkeit, dieselben Leistungen mit behelfsmässigen Mitteln zu erreichen. Statt einer Bronzeschale über Kerzenlicht wurde das heilige Öl in einem Dampfkochtopf erwärmt, für die Behandlung mit Dampf war ein Schlauch auf das Druckventil des Kochers gestülpt worden. Und erst das wunderbare ‚Thailadhara‘! Wo sonst ein heisser dünner Ölfaden auf die Haut sticht, von einem Behälter, der über den ausgestreckten Körper hin- und herfährt, lief dies bei uns etwas hemdsärmliger ab: Suresh drückte einen vollgesogenen Baumwoll-Lappen über der Haut aus, und aus dem nadelscharfen Ölstrahl wurde ein kitzliger Sprühregen.
Kultur der Armut
Meinen wachsenden Ärger parierte ich mit einer Mahnung an die eigene Adresse: ‚Du hast einen Kleinwagen gekauft, und nun empörst Du Dich, dass er nicht wie ein Rennauto fährt‘. Als nach zehn Tagen die Rechnung kam, merkte ich auch, dass diese handwerkliche Bescheidenheit nicht so sehr ein Qualitätsmangel war als vielmehr ein Teil des Geschäftsmodells. Die Preise lagen fast zehnmal unter jenen, die man – auch in Indien – in einem Ayurveda-Resort sonst zu begleichen hat.
Es war eine Erfahrung, die Besucher des Landes immer wieder machen: Taxis, denen der Boden abzubrechen droht, Tee vom Chaiwala, der in Plastiksäckchen serviert wird, Metall-Armaturen im Haushalt, die beim ersten Stresstest brechen, Hemden, denen nach dem ersten Wasch-Kontakt die Knöpfe fehlen. Unsere erste Reaktion ist meistens die endgültige – ‚den Indern fehlt es an Qualitätsbewusstsein‘. Das mag wahr sein, aber wahr ist auch: es ist eine Kultur der Armut, die es der grossen Mehrheit erlaubt, dank den Qualitätseinbussen an den Früchten des Fortschrittes teilzunehmen, ohne dabei pleite zu gehen; an den Früchten des Fortschritts – und jenen der Tradition.